Wir nutzen nur zehn Prozent unseres gesamten Gehirns - sagte einst Einstein, aber ist es deswegen auch wahr? Auch wenn Studien Mythen widerlegen, glauben viele Paramediziner weiterhin fest daran. Ist eine Lawine, einmal losgetreten, noch zu stoppen?
Knoblauch, Rote Bete und ausreichende Vitaminversorgung seien das beste Mittel gegen die AIDS-Epidemie im südlichen Afrika. Denn die Krankheit sei ein Signal, dass der Körper aus dem Gleichgewicht geraten ist und geht nicht auf eine Infektion mit fremden Organismen zurück. Weil Präsident und Gesundheitsministerin von Südafrika lieber Internetseiten und Scharlatanen glaubten, mussten etwa 350.000 Menschen an der Krankheit sterben. Antiretrovirale Medikamente hätten deren Leben wahrscheinlich deutlich verlängert. Thabo Mbeki bekam für seine "Strategie" auch Unterstützung aus Deutschland. Matthias Rath, deutscher Arzt und Kämpfer gegen eine "Pharma-Diktatur", überzeugte die Regierung von seinen Vitaminpräparaten.
Impf-Nebenwirkung: Autismus
Der Stammtisch-Diskurs über medizinische Un- und Halbwahrheiten tut sich dank multimedialer Netzausbreitung heute leichter als noch im letzten Jahrhundert. Das Buch "Virus-Wahn" enthält im Untertitel: "Wie die Medizin-Industrie ständig Seuchen erfindet". Die Spanische Grippe von 1918/19 gehe dementsprechend auf "Übermedikamentalisierung und Impfkampagnen" zurück. Wie viele Leser sind sich dabei bewusst, dass es zur damaligen Zeit noch gar keinen Impfstoff gegen die Grippe gab?
Ganz ähnlich liegt der Fall bei der MMR Impfung als Ursache für Autismus bei Kindern. Der Brite Andrew Wakefield glaubte, mit einer Untersuchung an zwölf Kindern diesen Zusammenhang beweisen zu können. Zahlreiche spätere Studien widerlegten die Annahme. In Japan erkrankten sogar Ungeimpfte häufiger als jene, die eine Spritze bekamen. Schließlich belegte Großbritannien den Arzt mit einem Berufsverbot. Wakefield war von den Eltern autistischer Kinder engagiert worden, um entsprechende "Beweise" zu erbringen. Außerdem versuchte er damit, seine eigenen Impfstoff-Firma "Immunospecifics Biotechnologies" zu fördern. Lancet zog die entsprechende Veröffentlichung zurück. Dennoch hält sich das Gerücht um den angeblichen Zusammenhang beständig.
"Keep it simple!"
Warum sind medizinische Mythen trotz zahlreicher Beweise für das Gegenteil kaum aus der Welt zu schaffen? Der Psychologe Norbert Schwarz von der Universität Michigan hat sich darüber Gedanken gemacht. Seine Theorie: Je intensiver wir versuchten, den Gegner mit Argumenten überzeugen zu wollen, desto mehr festigen wir seine ursprüngliche Meinung. Denn zahlreiche unterschiedliche Aspekte verkomplizieren den Meinungsprozess. Daher wirken zwei oder drei Gegenargumente besser als ein Dutzend. Je mehr sich der vermeintlich Starrsinnige Gedanken machen muss, warum er seine Meinung ändern sollte, desto anstrengender wird es für ihn.
Er und sein Kollege Ian Skurnik meinen, das auch mit experimentellen Daten beweisen zu können. Den Teilnehmern an ihrer Studie gaben sie einen Flyer mit Gegenargumenten zu weit verbreiteten Ängsten bei der Grippeimpfung zu lesen. Konnten die untersuchten älteren Leser direkt danach noch gut für eine Impfung argumentieren, sah das schon nach einer halben Stunde anders aus: Sie hatten sich eher die Irrtümer als die Gegenargumente gemerkt und wussten über fälschliche Annahmen besser als vor dem Lesen Bescheid. Drei Tage nach dem Lesen konnte sich auch knapp die Hälfte der jüngeren Leser nicht mehr an die Unterschiede zwischen Wahrheit und Mythos erinnern.
Unglücke sind selten, aber gut für Schlagzeilen
In seinem Buch "Denialism" bestätigt auch der amerikanische Wissenschaftsjournalist Michael Specter die Ergebnisse aus Michigan. Vermeintliche Experten gäben einfache Antworten auf komplizierte Fragen. Gerade bei Kinderkrankheiten wie beginnenden Autismus könne man damit gut die zweifelnden Eltern überzeugen. Den winzigen Bruchteil an Impfzwischenfällen - meist nur durch zufälliges Zusammentreffen unabhängiger Ereignisse - macht das Netz in kürzester Zeit weltweit bekannt, während Immunisierungen ohne Komplikation stumm bleiben. Dabei gehen Medizinmythen nicht selten von einer wahren Begebenheit aus. 1930 starben in Lübeck rund 80 Kinder an einer Tbc-Immunisierung mit nicht abgeschwächten Bakterien. Auch die ersten Polio-Vakzine enthielten Affentumorviren.
Erfahrung + Bauchgefühl ≠ Wahrheit
1996 publizierte die "New York Times" einen Artikel über die überaus lange Lebenszeit von medizinischen Mythen. Ärzte behandeln ihre Patienten zumeist mit einer Mischung von Wissen, Erfahrung und Bauchgefühl. Das letztere weigert nur allzu oft, Erkenntnisse aus neuer Forschung anzuerkennen, wenn sie der Medizin widersprechen, die vor etlichen Jahrzehnten gelehrt wurde. "Hat Akne etwas mit Schokoladenkonsum zu tun?" Bevor die ersten Studien handfeste Beweise für den fehlenden Zusammenhang lieferten, glaubten nicht nur Patienten, sondern auch ihre Doktoren daran. "Ich habe mich geirrt." ist ein Satz der besonders Ärzten schwer über die Lippen kommt.
Auch das "British Medical Journal" hat sich mit dem Thema "Mythen" auseinandergesetzt. Ein Zeichen dafür, dass auch unter Ärzten noch viele Falschannahmen grassieren oder eher eine Argumentsammlung für Patientengespräche? Auf zwei Seiten listen Rachel Vreeman und Aaron Carroll aus dem amerikanischen Indianapolis auf, warum wir nicht jeden Tag mindestens acht Glas Wasser trinken müssen, warum auch Rasieren nicht zu schnellerem Haarwachstum führt und Lesen im Dunkeln zwar anstrengend ist, jedoch nicht die Augen schädigt.
Entlarvungs-Handbuch gegen Gerücht-Epidemien
Gibt es überhaupt Möglichkeiten, Gerüchte aus dem Netz oder von der Nachbarin zu stoppen oder vielleicht sogar zu deaktivieren? Die Australier John Cook und Stephan Lewandowsky haben ein "Debunking Handbook" geschrieben, das gefürchtete Schreihälse entlarven soll. Wer in der Diskussion zu oft die falsche Behauptung erwähnt, gräbt sie in die Erinnerung das anderen ein. Daher: Sparsam mit eigenen Argumenten und mit der These des Gegners umgehen ("Overkill- und Familiarity Backfire Effect"). Wer Reizworte und Bedrohungen erwähne, erzeuge Angst und Solidarität unter den Widersachern (World View Backfire-Effect). Daher sei es wichtig, unverfängliche Begriffe und Alternativen zu präsentieren. Angewandt auf die Impfung-Autismus-Theorie bedeutet das beispielsweise, andere mögliche Erklärungen für die die Entstehung der Krankheit zu präsentieren.
Geplanter Genozid der Pharmaindustrie
Wer nach derzeit kursierenden Kampagnen gegen Schulmedizin oder menschenverachtender Pharmaindustrie sucht, wird im Netz schnell fündig. Stichort "Dirk Hamer-Syndrom". Krankheiten sind nach der Lehre der "Germanischen Neuen Medizin" und seines Vertreters Dr. (die Approbation wurde jedoch schon vor 20 Jahren entzogen) Ryke Geert Hamer nichts anderes als die Reaktion auf ein Schockerlebnis, Krebs ein Teil eines natürlichen Heilprozesses im Körper. Medizinische Eingriffe mit oder ohne Medikamente störten diese natürliche Regeneration. "Secret.tv" dokumentiert die Bemühungen der Medizintechnologie, sich die Schweinegrippe zu Nutze zu machen. Die Impfung sei nichts anderes als ein geplanter Genozid an großen Teilen der Menschheit - und glücklicherweise aufgedeckt und somit misslungen.
Kampagnen gegen sinnvolle Impfungen wie etwa Masern, Mumps und Röteln fiel nach den Veröffentlichungen von Dr. Wakefield von mehr als 90 Prozent auf rund 70, in London auf 50 Prozent. "Wir müssen uns eben von dem Traum verabschieden, dass wir die Masern ausrotten können" skizziert Johannes Löwer, ehemaliger Präsident des Paul-Ehrlich Instituts“ in der "ZEIT" die Konsequenzen.