Mitten in Berlin-Kreuzberg behandelt er täglich über 100 Patienten, Freizeit ist Mangelware. Trotzdem würde Dr. Ufuk Balimuhac seine Arztpraxis am Kottbusser Tor niemals aufgeben. Lesen Sie hier den ersten Teil der Serie "Kollegen über die Schulter geschaut".
Wenn Dr. Ufuk Ali Balimuhac aus dem Fenster seiner Praxis schaut, überkommt ihn meist pure Ernüchterung. Wieder einmal ein Krankenwagen, der einen der Junkies vom Kottbusser Tor einsammelt und zu einem nahe gelegenen Krankenhaus bringt. Das Kottbusser Tor liegt mitten in Berlin Kreuzberg. Es gilt als Drogenumschlagplatz Nummer eins in Berlin. Und genau hier hat der große, schlanke Allgemeinmediziner (49) in einem der oberen Stockwerke eines kleinen Hochhauses seine Praxis.
Vor fünf Jahren lagerten die Junkies sogar im Treppenhaus. Da konnte dann nur noch ein Sicherheitsdienst helfen. Seitdem rund um die Uhr ein Wachposten vor dem Haus patrouilliert, ist es wieder fixerfrei. „Ich hatte oft Angst um meinen Mann, wenn er spät abends inmitten dieser vielen Junkies auf seine U-Bahn warten musste - ihm hat das nichts ausgemacht“, erzählt Dr. Balimuhacs Frau, Sibel Balimuhac (45). Ihr zuliebe pendelt er die etwa 8 km zwischen Wohnhaus und Praxis seit fast fünf Jahren mit dem Auto.
Gottesstrafen?
Dr. Balimuhac behandelt Menschen aus etwa 16 verschiedenen Nationen in seiner Praxis, hauptsächlich aber türkische Migranten. „Und die unterscheiden sich nicht nur durch ihre Herkunft von den einheimischen Patienten“, weiß Dr. Balimuhac. Gerade für türkischstämmige Migranten sei es weniger wichtig, die Gründe ihrer Krankheit zu kennen, als vielmehr den Umstand zu klären, warum gerade sie betroffen sind. Viele sehen Krankheiten als Gottesstrafen an, und erwarten dementsprechend auch Heilung „von oben“. „Insgesamt sind Migranten anspruchsvollere Patienten als einheimische“, so Dr. Balimuhac, „denn sie fragen meist nicht, was sie selbst gegen eine Krankheit tun können, sondern was die Medizin dagegen zu bieten hat.“
Bruder oder Onkel
Eigentlich öffnet seine Praxis erst um neun Uhr morgens, aber wenn Dr. Balimuhac gegen acht aus dem Fahrstuhl steigt, stehen meist schon zehn bis fünfzehn Patienten vor der Tür. „Die nehme ich dann natürlich mit rein und fange schon mal mit den ersten Behandlungen an“. Wenn gegen halb neun die drei Arzthelferinnen kommen, ist das Praxisteam vollständig. Alle Mitarbeiterinnen sind türkischer Abstammung. Dr. Balimuhacs Praxis ist gemütlich. Das Wartezimmer mit dem großen Flachbildfernseher an der Wand, mutet fast wie ein Wohnzimmer an. Dort können sich die Patienten die oft lange Wartezeit mit Fernsehen vertreiben.
Einen weißen Kittel trägt hier niemand – auch nicht Dr. Balimuhac. „Das würde eine zu große Distanz zwischen uns und den Patienten herstellen“, erklärt er. Viele Menschen kommen auch, um sich ihre Probleme von der Seele zu reden. Die Älteren nennen ihn oft „Oglum“ (mein Sohn), von den Jüngeren wird er als „Bruder“ oder „Onkel“ bezeichnet. „'Herr Doktor' sagen nur wenige zu mir“. Und das ist auch völlig in Ordnung für den leidenschaftlichen Arzt. Er mag es familiär. Für seine Patienten ist Dr. Balimuhac einer von ihnen - er versteht, was seine Patienten bewegt.
Manchmal kommen auch die Junkies vom Kottbusser Tor in seine Praxis. Dr. Balimuhac hilft auch ohne Krankenversicherung – das wissen die Junkies. Aber er hat Regeln aufgestellt, von denen er seine Hilfe abhängig macht. „Alle, die meine Praxis betreten, müssen sich anständig verhalten. Da mache ich zum Schutz meiner anderen Patienten auch keine Ausnahme. Hunde und Bierflaschen sind in meiner Praxis nicht erlaubt“, erklärt er. „Bisher halten sich alle daran – auch die Junkies. Sie kommen ohnehin nur im Notfall zu mir, dann helfe ich auch einmal mit Medikamenten, bevorzugt Freitag nachmittags, wenn die meisten anderen Patienten schon weg sind.“
Dauerstress
Im Schnitt suchen etwa 150 Patienten täglich seine Praxis auf, auch wenn sie nicht alle untersucht werden wollen oder müssen. Gerade jetzt im Herbst, wenn viele meist ältere Migranten aus ihren Sommerwohnsitzen in der Türkei zurückkehren, ist seine Praxis besonders voll. „Ich bin immer unter Zeitdruck“ - als er das sagt, zuckt er mit den Schultern. Anders wäre es ihm lieber, aber das sei nicht zu ändern bei so vielen Patienten. Wenn er merkt, dass er mehr Zeit für einen Patienten benötigt, vergibt er auch schon mal Termine in der Mittagspause oder am Wochenende. In der übrigen Zeit erledigt er Hausbesuche. Die langen Arbeitstage hinterlassen ihre Spuren. Der sympathische Arzt wirkt abgekämpft, der Schlafmangel hat dunkle Schatten unter seinen Augen hinterlassen.
Allrounder in der Türkei
An ein hohes Arbeitspensum ist er jedoch schon lange gewöhnt. Als er noch in der Türkei praktizierte, herrschte oft chronischer Ärztemangel. Ein 7.000-Seelen Dorf an der Schwarzmeerküste war auf ihn als einzigen Arzt angewiesen. Da musste er überall mit anpacken – als Geburtshelfer, als Chirurg, bei Obduktionen, aber auch bei Trinkwasseruntersuchungen im Labor und einmal sogar als Mathematiklehrer in der örtlichen Schule, weil der Zuständige für sechs Monate ausgefallen war. Freizeit hatte er auch dort nie. Das Rauchen hat er sich schon einige Male versucht abzugewöhnen. „Gesund ist das nicht, das weiß ich, aber es bringt mich irgendwie runter, wenn ich an die Grenzen meiner Belastbarkeit stoße“, räumt er ein.
Zwangspause mit Folgen
Nach einer Knie-Verletzung im Sommer `91 konnte der junge Arzt zwölf Wochen lang nicht arbeiten. Weil ihm zu Hause in der Türkei die Decke auf den Kopf fiel, nahm ihn sein Onkel mit zu Freunden nach Antalya, die dort ihre Ferien verbrachten. In die älteste Tochter dieser Familie verliebte sich der junge Arzt gleich unsterblich. Nach zwei Wochen verlobten sich die beiden, fünf Monate später heirateten sie. Dr. Balimuhacs Frau ist zwar türkischer Abstammung, war aber bereits als kleines Mädchen mit ihren Eltern nach Berlin ausgewandert. „Nach der Hochzeit musste eine Entscheidung fallen, wo wir in Zukunft leben wollten“, erinnert sie sich. Dazu kam seine Frau für eine Woche in die Türkei. In dieser Woche sahen sich die beiden allerdings nur selten. Nach vollgepackten Arbeitstagen im Krankenhaus wurde der gefragte Arzt spätestens beim Abendessen zu Hause schon wieder zu Patienten gerufen. „Es gab auch keine Nacht, in der ich nicht weg musste“, erinnert er sich. Damit kam seine Frau nicht zurecht.
So entschieden sie sich für ein Leben in Deutschland. Neu in Berlin, erkundete der junge Arzt die Stadt zu Fuß. „Ok, du wirst hier leben, dann musst du lernen, wie man hier lebt“, war seine Devise. Heimweh ließ er nicht zu und den bloßen Gedanken an eine Rückkehr in die Türkei hätte er als Aufgeben empfunden. Das kam nie für ihn in Frage, obwohl er anfangs kein Wort Deutsch sprach. Das lernte er zuerst beim Goethe-Institut und dann in verschiedenen anderen Berliner Sprachschulen. Heute ist es nahezu perfekt – nur ein schwacher, türkischer Akzent verrät, dass er kein Muttersprachler ist. Weil Dr. Balimuhac bereits fünf Jahre als Arzt in der Türkei gearbeitet hatte, durfte er in Deutland unter Aufsicht eines approbierten Arztes ohne zusätzliche Prüfungen weiterarbeiten. 1998 nahm er die deutsche Staatsbürgerschaft an und erhielt kurz darauf seine Approbation.
Aufklärungsarbeit für Migranten
In seine jetzige Praxis am Kottbusser Tor kam er 1994 über die Berliner Gesellschaft Türkischer Mediziner e.V., in der er auch heute noch aktiv tätig ist. Menschen mit Migrationshintergrund zu unterstützen, ist ihm nach wie vor ein besonderes Anliegen. „Ich habe neun Monate lang die AIDS-Beratungsstelle für Menschen aus der Türkei, ein Projekt der Berliner Gesellschaft Türkischer Mediziner e.V., geleitet“, erklärt er. In den Berliner Moscheen leistete er sexuelle Aufklärungsarbeit und informierte die Menschen über HIV-Infektionen und ihre Folgen. „Dabei war die Schulung von Imams und Hocas (islamische Geistliche) besonders wichtig, da ihnen die Menschen vertrauen und sie als Multiplikatoren dienen“, erinnert er sich. Dazu gewann er auch einen lokalen türkischen Fernsehsender, der mit ihm alle zwei Wochen Livesendungen zu wichtigen Gesundheitsfragen ausstrahlte.
Die Familie kommt oft zu kurz
In nächster Zeit stehen neben dem ganz normalen Praxisalltag wieder zahlreiche Vorträge und Fortbildungen an. Da bleibt die Familie oft auf der Strecke. Viele Abende und Wochenenden verbringen die 13-jährige Tochter und der 17-jährige Sohn ohne ihren Vater. „Ich bin praktisch alleinerziehend“, klagt seine Frau. „Aber im Gegensatz zu seiner Arbeit in der Türkei ist er hier wenigstens nachts zu Hause. Unsere gemeinsame Zeit ist kostbar, aber das habe ich von Anfang an gewusst.“ Neben den zahlreichen Patienten, die ihm ihr Vertrauen schenken, gibt es jedoch auch ganz weltliche Gründe, die Dr. Balimuhac Arbeitswochen von über 70 Stunden bescheren. „In Kreuzberg gibt es fast keine Privatpatienten, da verdient man nicht sehr viel“, sagt er. Mit zunehmendem Alter steigen auch die Ansprüche der Kinder und das Einfamilienhaus mit Garten in Berlin-Britz muss auch noch abbezahlt werden. Ob er trotzdem alles noch mal so machen würde? „Ja, ganz bestimmt!“ Selbst seine Praxis am Kottbusser Tor würde er gegen keine andere eintauschen. Er lächelt: „Ich liebe Kreuzberg. Das ist wie Klein-Istanbul – ein Stück meiner Heimat!“