Bei Amyotropher Lateralsklerose führen Proteinablagerungen zum Untergang von Motoneuronen. Zwar ist eine kausale Therapie momentan nicht möglich. Forscher haben aber etliche Achillesfersen entdeckt.
Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) hat viele Gesichter: Jörg Immendorff (1945-2007), einer der bekanntesten Künstler der deutschen Gegenwart, ist daran gestorben und der britische Astrophysiker Stephen Hawking kämpft seit Jahrzenten gegen diese Krankheit an. Meist beginnt ALS recht unauffällig mit nachlassender Kraft, mit Problemen bei Halten eines Stifts oder mit häufigem Stolpern. Später kommt es zu ausgeprägten Muskellähmungen der Arme oder Beine, Betroffene können sich nicht mehr ohne fremde Hilfe fortbewegen. Schließlich benötigen sie technische Unterstützung beim Sprechen und Atmen. Innerhalb von drei bis fünf Jahren führt die Erkrankung zum Tode, meist durch Lungenentzündungen als Folge von Schluckstörungen. Bundesweit leiden rund 8.000 Menschen an ALS und schätzungsweise 2.000 Patienten sterben Jahr für Jahr daran. Stephen Hawking hat noch Glück im Unglück: Bei ihm trat eine juvenile Form auf, die extrem langsam fortschreitet.
Massenhaftes Nervensterben
Auf molekularer Basis gehen bei ALS mehr und mehr Nerven zu Grunde. Entsprechende Symptome lassen sich auf Funktionsausfälle des ersten und zweiten Motoneurons zurückführen: Spastische Lähmungen verschlechtern die Feinmotorik, verlangsamen Bewegungen und machen Sprechen beziehungsweise Schlucken in späteren Krankheitsphasen unmöglich. Parallel dazu baut der Körper Muskeln ab und es kommt zu Muskelkrämpfen. Die genauen Mechanismen konnten Forscher noch nicht entschlüsseln – immer wieder gilt es, Hypothesen zu revidieren.
Rätselhafte Ursachen
Lange Zeit galt die Lehrbuchmeinung, dass sich bei ALS Endosomen und Mitochondrien nur eingeschränkt entlang von Axonen bewegen. Die Folge: Nervenzellen gehen zu Grunde. Forscher fanden jetzt Hinweise, dass Defizite im axonalen Transport von Zellorganellen und Axon-Degenerationen voneinander unabhängig sind. Sie untersuchten dazu ALS-Mäuse mit Hilfe von Zeitraffermikroskopen. Auch der der Fibroblasten-Wachstumsfaktor 2 (Fibroblast Growth Factor 2, FGF-2) muss künftig neu bewertet werden. Das Protein ist als neurotropher Faktor für die Entwicklung von Nervenzellen wichtig. Bislang nahmen Wissenschaftler an, FGF-2 wirke sich positiv auf das Krankheitsgeschehen aus. Mäuse mit ALS lebten jedoch länger, falls sie den Faktor nicht herstellen konnten. Als therapeutische Option scheidet FGF-2 damit aus.
Viele Strategien, wenig Klarheit
Bei Patienten mit familiärer ALS, dies sind etwa zehn Prozent, fanden Humangenetiker Mutationen im UBQLN2-Gen. Es codiert für Ubiquilin-2 – ein Schlüsselmolekül beim Recycling beschädigter Proteine. Durch Fehler im Erbgut entstehen nicht funktionsfähige Formen und der Körper lagert eigentlich zum Abbau markierte Eiweiße in Nervenzellen ab. Ähnliche Akkumulationen treten bei Patienten ohne UBQLN2-Mutation auf. TDP-43 trägt Informationen für ein Protein mit regulatorischen Aufgaben. Es steuert durch alternatives Spleißen, also verschiedene Prozessierung von Ribonukleinsäuren (mRNAs), die Aktivität etlicher Gene. Mutationen im TDP-43-Gen führen zu funktionslosen Proteinen, die sich in Neuronen ansammeln und deren Untergang herbeiführen.
Nicht zuletzt kommt als weiteres Gen C9ORF72 in das Spiel. Das zugehörige Enzym Superoxiddismutase regelt Entzündungsprozesse, indem es Capase-1-Aktivitäten beeinflusst. Die Capase wiedrum spaltet Interleukin-1β (IL-1β) aus Vorläufern ab. Bei ALS-Patienten konnte ein hohes Level an Capase-1 nachgewiesen werden. Der innovative Ansatz ist jetzt, IL-1β-Rezeptoren zu blockieren. Zumindest bei Mäusen besserte sich das Krankheitsbild und ihre Lebenserwartung stieg. Ansonsten sind Stammzellen mit hohen Erwartungen verknüpft. Forscher der Ruhr-Universität Bochum gelang es, Stammzellen aus dem Rückenmark von Mäusen zu isolieren und in unreife Nervenzellen umzuwandeln. Ihre Hoffnung: Da sich diese in einer frühen Entwicklungsphase befinden, können sie besser in neuronale Netze integriert werden. Bis diese Strategie Patienten zu Gute kommt, wird noch viel Zeit vergehen.
Ratlosigkeit in der Praxis
Zurzeit sieht die Sachlage eher schlecht aus: Haben Neurologen ALS zweifelsfrei anhand spezifischer „El-Escorial-Kriterien“ diagnostiziert, können sie nicht viel unternehmen. Im Mittelpunkt der Arzneimitteltherapie steht Riluzol. Dieses Benzothiazol zeichnet sich durch seine neuroprotektive Wirkung aus. Patienten profitieren davon in doppelter Hinsicht: Die Progression verlangsamt sich, und im Schnitt verlängert sich die Lebenszeit um drei Monate. Ansonsten erwähnt die Leitlinie vor allem symptomatische Ansätze, etwa bei Krämpfen (Carbamazepin, Chininsulfat, u.a.) oder bei verstärktem Speichelfluss (Amitriptylin, Scopolamin, u.a.). Tritt pathologisches Lachen oder Weinen auf, greifen Kollegen zu selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (Citalopram, Fluvoxamin, u.a.). Hinzu kommen Maßnahmen gegen Aspirationspneumonien, also physikalische Therapien, eine Verringerung des Speichelflusses sowie eine frühzeitige Antibiose bei Infektionen. Früher oder später sind auch diverse Hilfsmittel wie elektrische Rollstühle oder Beatmungsgeräte erforderlich.
Erste Hilfe für Nervenzellen
Jetzt setzen Kollegen große Erwartungen in Dexpramipexol, das R-Enantiomer des bekannten Parkinson-Medikaments Pramiprexol. Dieser Arzneistoff schützt Nervenzellen, indem sich deren Energiestoffwechsel normalisiert. Nachdem eine Phase-II-Studie Hinweise mit mehr als 100 Patienten Hinweise brachte, dass sich ALS verlangsamt, folgt eine placebokontrollierte, doppelblinde Phase-III-Studie mit über 800 Betroffenen. Außerdem hat die European Medicines Agency (EMA) einen Arzneistoff als Orphan Drug bei ALS zugelassen: S-Apomorphin passiert die Blut-Hirn-Schranke und führt zu höheren Nrf2-Spiegeln. Wissenschaftler vermuten, dass Nrf2 kann toxische Effekte reaktiver Sauerstoff-Spezies (ROS) im Nervensystem neutralisieren. Oftmals hilft schon ein ganz simpler Trick.
Erwünschte Pfunde
Während die negativen Folgen von Übergewicht landläufig bekannt sind, lässt speziell bei ALS eine US-amerikanische Arbeit mit 400 Studienteilnehmern aufhorchen. Patienten mit BMI-Werten zwischen 30 und 35 hatten die höchsten Überlebenschancen. Das liegt aller Wahrscheinlichkeit nach am erhöhten Energieverbrauch. Die deutsche Leitlinie empfiehlt neben hoch kalorische Diät frühzeitig eine perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG) anzulegen. Dabei muss die respiratorische Situation von Patienten beachtet werden, um kein Risiko einzugehen.