Die Vorzüge des Zuckerersatzes Erythrit klingen fast zu schön, um wahr zu sein: Er hat beinahe keine Kalorien, beeinflusst weder den Blutzuckerspiegel noch den Geschmack. Studien zeigen aber, dass Erythrit möglicherweise doch einen negativen Einfluss auf den Stoffwechsel hat.
„Kaum Kalorien, Blutzucker bleibt unten: Das kann der fast unbekannte Süßstoff“, schreibt Focus online. Und „Bild“ ergänzt: „Mit „Xucker“ wird ohne Zucker genascht.“ Wollen Kunden auf Saccharose verzichten, greifen sie aufgrund von Medienberichten immer häufiger zu Erythrit. Für Verbraucher scheint das bislang eher unbekannte Molekül auf den ersten Blick eine gute Alternative zu sein.
Erythrit ist meso-1,2,3,4-Butantetrol, also ein Zuckeralkohol. Er wird heute vor allem biotechnologisch aus Saccharose oder Glukose gewonnen. In Deutschland ist der Einsatz als Lebensmittelzusatzstoff E 968 möglich, wobei Hersteller auf Anteile von mehr als zehn Prozent hinweisen müssen. Erythrit in kristalliner Form © Wikimedia Commons, Thomas Kniess, CC BY SA 4.0 Mittlerweile zeigen etliche Studien, dass Erythrit für Menschen physiologisch unbedenklich ist. Aus medizinisch-pharmazeutischer Sicht hat der Zuckeraustauschstoff sogar Vorteile. Er beeinflusst den Blutzucker- und den Insulinspiegel nicht. Während Haushaltszucker mit etwa 400 Kilokalorien (kcal) pro 100 Gramm zu Buche schlägt, sind es bei Erythrit nur 20 kcal. Kariogene Bakterien metabolisieren die Substanz nicht. Außerdem zeigt das Molekül keine unangenehmen Effekte, wie sie bei anderen Zuckeralkoholen bekannt sind. Während Sorbit, Maltit, Lactit und Isomalt eine geringe digestive Toleranz haben, ist der Wert für Erythrit mit rund einem Gramm pro Kilogramm Körpergewicht vergleichsweise hoch. Da Erythrit größtenteils über den Dünndarm aufgenommen und über die Nieren ausgeschieden wird, kommt es seltener zu Blähungen und Diarrhoe. Laut Angaben der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority, EFSA) wirken nichtalkoholische Getränke mit maximal 1,6 Prozent des Zuckeralkohols nicht abführend. Erythrit beeinflusst den Geschmack im Unterschied zu Stevia oder Aspartam nicht. Aufgrund der geringeren Süße von 70 Prozent, gemessen an Haushalszucker, müssen kommerzielle Rezepte verändert werden. Die Tatsache gilt aber auch für Sorbit (50 Prozent Süßkraft), Mannit (30 bis 50 Prozent) oder Isomalt (50 bis 60 Prozent).
Meghan B. Azad © ResearchGate Doch die Freude über nahezu kalorienfreie Süße währt nur kurz. Meghan B. Azad, Zellbiologin am George & Fay Yee Centre for Healthcare Innovation im kanadischen Winnipeg wollte wissen, ob Süßstoffe beziehungsweise Zuckeraustauschstoffe wirklich ohne Folgen für den Körper bleiben. Sie hat Erythrit zwar nicht explizit untersucht. Ihre Ergebnisse lassen sich aber durchaus übertragen. Im Rahmen einer Metaanalyse fand ihr Team sieben randomisierte kontrollierte Studien mit 1.003 Teilnehmern und 30 Kohortenstudien mit 405.907 Teilnehmern. Die Nachbeobachtungszeit lag median bei sechs Monaten (RCTs) beziehungsweise bei zehn Jahren (Kohorten). „RCTs zeigen keinen klaren Vorteil von nicht-nutritiven Süßstoffen für die Gewichtsreduktion, und Beobachtungsdaten deuten darauf hin, dass der regelmäßige Konsum sogar mit einem erhöhten BMI- und kardiometabolischen Risiko einhergeht“, schreibt Azad. Konsumenten haben das Gefühl, sich gesund zu ernähren. Sie achten nicht mehr auf die Mengen. Lebensmittel enthalten beispielsweise neben Zuckeraustauschstoffen Fette als Kalorienquelle.
Katie C. Hootman © ResearchGate Neben diesen psychologischen Effekten fand Katie C. Hootman von der Cornell University, Ithaca, Hinweise, dass Erythrit entgegen früheren Vermutungen durchaus Bestandteil des körpereigenen Stoffwechsels ist. Grundlage ihrer Arbeit war die Beobachtung, dass drei von vier US-amerikanischen Studienanfängern im ersten Jahr der Hochschulausbildung zunehmen. Die Erklärung überrascht nicht. Jugendliche ziehen häufig in die erste eigene Wohnung. Sie kochen seltener, kaufen dafür lieber Fast Food oder Convenience-Produkte ein. Bisher kannten Forscher keinen Biomarker für das Risiko einer beginnenden Adipositas. Dies wäre wichtig, um frühzeitig zu intervenieren. Professor Dr. Karsten Hiller von der TU Braunschweig untersuchte in Hootmans Auftrag über ein Jahr hinweg mehrfach Blutproben aller Probanden. Er setzte die Gaschromatographie-Massenspektrometrie-Kopplung (GC-MS) ein. Hiller interessierte sich für das sogenannte Metabolom, also die Gesamtheit aller Stoffwechselvorgänge auf molekularer Basis. Gleichzeitig wurden phänotypische Merkmale und HbA1c-Werte der Studierenden erfasst. Das Team hatte Erfolg: Bei Studienteilnehmern, die gerade stark zunehmen, tauchte verstärkt Erythrit auf. Das Molekül könnte sich als Biomarker eignen, wobei aus Assoziationen bekanntlich keine Kausalitäten folgen. Wissenschaftlich unumstößlich ist jedoch folgendes Resultat: Über Glukose, die vorher mit dem stabilen Kohlenstoffisotop 13C markiert worden war, gelang der Nachweis, dass unser Körper tatsächlich Erythrit herstellt. „Erythrit ist keine Substanz, die wir einfach wieder ausscheiden“, so Hiller. „Sie hat eine Wirkung auf unseren Stoffwechsel. Das steht im Gegensatz zu allen bisherigen Annahmen.“ Mit der Isotopenmethose will er jetzt alle Stoffwechselwege rund um Erythrit genau untersuchen, um zu verstehen, welche Rolle dieser Zuckeralkohol bei der Gewichtszunahme spielt. Dann wird sich auch zeigen, ob extern zugeführtes Erythrit neu bewertet werden muss.