Die britische NSHA ist eine der größten Datensammlungen der Welt. Die Aufzeichnung von mentalem und physiologischem Status im Abstand von fünf bis zehn Jahren deckt aber nicht nur Zusammenhänge auf, sondern lässt auch einen Blick in die Zukunft zu.
Gibt es schon in der Kindheit eine Vorbestimmung für Gebrechlichkeit im Alter? Ist Armut im Elternhaus bereits ein unüberwindliches Handikap für die Gesundheit als Erwachsener? Es gibt nur ganz wenige Studien, die Menschen ein Leben lang beobachten und kaum Daten, die auf eine große Anzahl von Teilnehmern zurückgreifen können, um deren Lebensläufe zu vergleichen.
66 Jahre langes Bestehen
In Großbritannien hatten Forscher den Mut, gleich nach dem Krieg eine solche Studie zu starten. Sie feierte dieses Jahr ihren 66. Geburtstag. Der „National Survey of Health and Development“ (NSHA) hat es in den vergangenen Jahrzehnten auf mehr als 600 wissenschaftliche Publikationen und acht Bücher gebracht. Und fast noch besser: Von den ursprünglich rund 5000 Kindern sind heute noch rund 80 Prozent dabei und bereit, ihre Daten aus den regelmäßigen Untersuchungen den Wissenschaftlern zur Verfügung zu stellen. „Die Kohorte gehört heute zu jenen, deren Phänotyp am öftesten beschrieben wurde“ sagt Diana Kuh, die im „Medical Research Council“ für die Studie verantwortlich ist.
Zusammenhang zwischen Intelligenz und Menopause
In der ersten Märzwoche des Jahres 1946 kamen im gesamten Vereinigten Königreich rund 17.000 Kinder zur Welt. Für den Beginn der Studie dokumentierten Forscher und deren Helfer bei rund einem Drittel dieser Kinder Geburtsgewicht, Beruf des Vaters, Familienstand der Mutter, Haushaltsgröße und viele andere Details auf einem vierseitigen Fragebogen. Ursprünglich als Untersuchung zur Mutterschaft nach dem Luftkrieg gedacht, erweisen sich jetzt die regelmäßigen Befragungen und Tests der Kinder im Kleinkindalter, mit acht, elf und fünfzehn Jahren und danach im Abstand von fünf bis zehn Jahren als wahrer Schatz für Epidemiologen.
Zusammenhang zwischen Geburtsgewicht und Hypertonie
Als eine der ersten demonstrierten die Briten etwa einen Zusammenhang zwischen geringem Geburtsgewicht und Hypertonie als Erwachsener. Dafür steigt bei schwergewichtigen Mädchen am ersten Tag ihres Lebens das Risiko für einen Tumor in ihrer Brust Jahrzehnte später. Kleinkinder, die im Lauf ihrer Entwicklung mehr als eine Woche im Krankenhaus verbracht hatten, zeigten später mehr Verhaltensstörungen und machten ihren Eltern größere Sorgen bei der Erziehung.
Überraschende Erkenntnis
Und noch ein Zusammenhang, der die beteiligten Forscher zunächst verblüffte: Wer überdurchschnittlich intelligent ist, kommt später in die Wechseljahre. Die beiden Faktoren scheinen auf den ersten Blick kaum etwas miteinander zu tun zu haben, der Zusammenhang ist aber felsenfest bestätigt. Vielleicht, so spekulieren Experten, ist hohe Intelligenz ein Marker für ein gut entwickeltes Gehirn. Darin würden die dort produzierten Hormone den weiblichen Keimzellen eine längere Spanne Zeit geben, um sich sich mit Samenzellen zu vereinigen.
Wohlstand mit Problemen
Aber nicht nur die lange Beobachtungszeit, sondern auch die Umstände, in denen die Kinder in den ersten Jahren der Studie aufwuchsen, sind für Gesundheitsforscher interessant. Kurz nach dem Krieg gab es allein schon aufgrund des Nahrungsangebots kaum übergewichtige Kinder und daher kaum Krankheiten, die damit zusammenhängen. Auch als junge Erwachsene hatten die Untersuchten meist Normalgewicht. Das änderte sich erst mit zunehmendem Wohlstand und den entsprechenden Folgen für die Gesundheit. Mit Mitte sechzig ist heute nur mehr ein Sechstel frei von körperlichen Beschwerden. Rund die Hälfte leidet an Hypertonie, rund 30 Prozent sind übergewichtig. Krankheiten von heute waren aber auch schon vor 30 Jahren abzusehen: Wer mit 36 Probleme mit seiner Gesundheit hatte, dessen Risiko für ein Altersleiden ist im Vergleich mit anderen etwa doppelt so hoch.
Molekulare Zukunftsweiser?
Wer aber seinen Lebensstil früh genug ändert - auch das ist eine Botschaft aus der Langzeitstudie - kann das Risiko deutlich verringern. Doch die Voraussetzungen für Fitness im Alter werden schon in frühester Jugend gelegt. Jetzt versuchen Forscher, die Beobachtungen mit harten molekularen Fakten zu unterlegen. Ein großes Projekt sind etwa epigenetische Marker, die die Expression von Genen zu festgelegten Zeitpunkten anzeigen. Lässt sich aus ihnen auf die Zukunft schließen? Das will beispielsweise Martin Wildschwendter vom University College in London in seinem Forschungsprojekt zur Studie wissen.
Ein weiteres großes Vorhaben ist die Genomsequenzierung von Teilnehmern. Dafür sind allerdings (vorerst noch) große finanzielle Mittel notwendig und daher ist Gesamt-Genanalyse ein Zukunftsprojekt. Weitere Fragen, die sich die Forscher vor der nächsten Untersuchungsrunde stellen: Wie beeinflussen frühe Lebenserfahrungen ein gesundes Altern? Sind die jetzigen Wehwehchen nur ein vorübergehendes Leiden oder ist das der Anfang vom Ende? Welchen Einfluss haben die Lebensumstände auf die Generation der Enkel?
Langzeitstudien in Deutschland
Auch in Deutschland gibt es Langzeitstudien über die Entwicklung von Kindern zu Erwachsenen. Zwanzig Jahre von 1984 an lief etwa die LOGIK-Studie. (Longitudinalstudie zur Genese individueller Kompetenzen). Auch sie bestätigte, dass Intelligenz im späteren Leben schon sehr früh, noch vor der Schulzeit, angelegt ist, Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen der 210 untersuchten Kinder blieben über Jahre hinweg außerordentlich stabil. Mit Mitteln der Fritz-Thyssen-Stiftung koordiniert Jens Asendorpf von der Berliner Humboldt Universität zur Zeit ein Follow-Up mit den Teilnehmern der Studie, die inzwischen in ihren Dreissigern sind.
Resilienz - Ausweg aus der „Familienfalle“
Dass aber auch eine Jugend mit allen negativen Indikatoren nicht zu einem verkorksten Leben führen muss, zeigt eine andere Langzeitstudie. Emmy Werner von University of California nahm 1955 knapp 700 Kinder auf der Hawaii-Insel Kauai in ihre Untersuchungen auf. 200 davon wuchsen nach ihrer Geburt in schwierigen Umständen auf. Die Eltern hatten ein sehr niedriges Bildungsniveau oder waren geschieden, die Kinder vernachlässigt oder gar misshandelt. Rund zwei Drittel der Kinder war an ihrem 18. Geburtstag lern- oder verhaltensgestört oder mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Das restliche Drittel schaffte aber den Sprung in eine bessere Welt. Im Alter von 40 gab es in dieser Gruppe keine Arbeitslosen oder Straffälligen. „Die Annahme, dass sich ein Kind aus einer Hochrisikofamilie zwangsläufig zum Versager entwickelt, wird durch die Resilienzforschung widerlegt“ fasst Werner ihre Ergebnisse zusammen. Die innere Widerstandskraft (Resilienz) schafft erstaunlich oft den Weg aus der negativen Vorbestimmung.
In den nächsten Jahren wird das Gewicht in der obersten Etage der Alterspyramide immer mehr zunehmen. Kaum jemand hätte nach dem Krieg gedacht, welchen Wert die Daten der Kinder aus jener Märzwoche des Jahres 1946 einmal haben werden. Sie erlauben einen kleinen Blick, wie unser Leben jenseits der Lebensmitte einmal aussehen wird und wie wir es schon als Kind beeinflussen können.