So sicher wie die ersten Nebeltage und die bunten Blätter ist jeden Herbst eine neue Ausgabe des Arzneiverordnungreports mit Hinweisen, wo Leistungserbringer noch sparen müssten. Dieses Jahr gibt es dennoch ein paar Überraschungen.
Ein Lob von unerwarteter Seite: „Seit 27 Jahren berichten wir über Daten, Trends und Kosten von Arzneimitteln für Patienten der gesetzlichen Krankenversicherung“, sagt Professor Dr. Ulrich Schwabe, Uni Heidelberg. „In diesem langen Zeitraum haben wir viele Aufwärtsphasen, aber nur selten Abwärtsbewegungen erlebt.“ Zusammen mit Dr. Dieter Paffrath, AOK Nordwest, hat Schwabe den Arzneiverordnungsreport (AVR) methodisch verbessert: Nach jahrelanger Kritik werden erstmals Nettokosten verglichen und Rabatte, die Apotheker sowie Hersteller ohnehin leisten müssen, abgezogen. Auch die Rabattverträge gehen mit ein. Das Resultat: Im Vergleich zum Vorjahr sanken Arzneimittelausgaben der GKVen in 2011 um sage und schreibe vier Prozent, also 1,2 Milliarden Euro, auf nunmehr 30,9 Milliarden Euro. Und das, trotz 2,3 Prozent mehr Verordnungen. Billiger geht immer Ulrich Schwabe führt diese Entwicklung einzig und allein auf regulatorische Maßnahmen des Gesetzgebers zurück. Vor allem sorgte das GKV-Änderungsgesetz für höhere Abschläge bei Medikamenten, die keiner Festbetragsgruppe zugeordnet worden sind. Hinzu kommen noch Generika: Unter dem Stich sparten gesetzliche Krankenversicherungen hier 1,6 Milliarden Euro – das Soll ist mehr als erfüllt. „Rabattverträge und Festbeträge gemeinsam fördern damit eine wirtschaftliche Arzneimittelversorgung“, ist sich Paffrath sicher. Der Umsatz im Generikabereich sank trotz nahezu gleichbleibender Verordnungszahlen um weitere 5,5 Prozent – für die AVR-Autoren ein Zeichen, dass es weitere Schätze zu heben gibt. Zwischen Kostendämpfung und Innovationsbremse Etwa 2,8 Milliarden Euro gehen auf das Konto patentgeschützter Analogpräparate – schließlich kosten sie pro Packung durchschnittlich mehr als acht mal soviel wie Generika. Zwar hat die Regierung einen Riegel in Form des Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetzes (AMNOG) vorgeschoben. Neue Arzneimittel müssen sich einer frühen Nutzenbewertung unterziehen. In den ersten 20 Monaten seit Inkrafttreten des Gesetzes ließ sich bei 14 von 23 neuen Arzneistoffen zumindest bei Teilindikationen ein Zusatznutzen nachweisen. Auch der Bestandsmarkt soll einer kritischen Bewertung unterzogen werden. Das scheitert zurzeit an Ressourcen: „Wenn die angestrebten Einsparungen erreicht werden sollen, müsste unsere Kapazität für die Nutzenbewertung sicher erhöht werden“, fordert Schwabe. Spielraum für Pharmaindustrie Liefert dieses Prozedere nicht die gewünschten Ergebnisse, erfolgt nach Möglichkeit eine Zuordnung in Festbetragsgruppen. Genau hier setzen pharmazeutische Unternehmer an: Fehlt ein Zusatznutzen, kann das auch an unterschiedlichen Vergleichstherapien oder unvollständigen Dossiers liegen. Zwei Beispiele: In den letzten Monaten nahmen Hersteller Retigabin und Linagliptin wegen des G-BA-Votums erst einmal vom Markt – trotz erheblicher Bedenken aus Wissenschaft und Praxis. Für Linagliptin wurde mittlerweile ein neues Dossier bereitgestellt, und Retigabin soll ebenfalls wieder auf den deutschen Markt gelangen. Dazu Paffrath: „Ziel muss sein, dass für innovative Therapien angemessene Preise gelten“, lukrativ für Hersteller, aber auch tragbar für das Gesundheitssystem. Ob eine frühe Nutzenbewertung Innovationen ausbremst, bleibt abzuwarten – in diesem Jahr wurden bislang nur elf neue Arzneistoffe angemeldet. Holland-Preise als Richtschnur Außerdem bestünde laut AVR ein eklatantes Preisgefälle zu unseren Nachbarn: Die 50 umsatzstärksten Analogpräparate sind in den Niederlanden um 22 Prozent günstiger. Korrigiert man alle Zahlen jedoch um die Mehrwertsteuer, liegt der Unterschied nur noch bei sechs Prozent. Dazu sagt Henning Fahrenkamp vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie: „Der Vergleich der Apothekenverkaufspreise gibt keinen Aufschluss darüber, wie groß angebliche Preisunterschiede bei den Herstellern in verschiedenen Ländern sind.“ Vergleich mit anderen Ländern Er gab selbst eine Studie bei Professor Dr. Dieter Cassel, Universität Duisburg-Essen, und Professor Dr. Volker Ulrich, Universität Bayreuth, in Auftrag . Beide Wissenschaftler untersuchten die Übertragbarkeit von Daten britischer beziehungsweise schwedischer Gesundheitssysteme auf Deutschland – diese Länder wurden in Arzneiverordnungs-Reporten der letzten Jahre als Richtwert herangezogen. Einsparpotenziale seien gar nicht exakt zu berechnen und „daher eher ein Irrlicht als einen richtungsweisenden Leuchtturm für rationales Handeln im Gesundheitswesen“, so die Schlussfolgerung. Verordnungen unter der Lupe Schwabe und Paffrath befassen sich aber auch mit dem Verordnungsverhalten von Ärzten. Der Umsatz von Fertigarzneimitteln hat sich kaum verändert. Bei näherer Betrachtung ist ein marginaler Anstieg des Werts je Verordnung (plus 0,1 Prozent) zu finden, wobei die Mengenkomponente leicht rückläufig ist (minus 0,1 Prozent). Zeitgleich sind Tagesdosen um 2,3 Prozent gewachsen. Beim Wert je Verordnung gibt es zwei wichtige Parameter: Zwar seien Preise laut AVR um 2,3 Prozent gesunken. Gleichzeitig wurde dieser Effekt durch Strukturkomponenten, also teure Pharmaka oder größere Packungen, kompensiert. „Nachhaltig manipuliert“ Dahinter stecken keineswegs hochpreisige, onkologische Wirkstoffe, wie zu erwarten wäre. Unter den 50 umsatzstärksten, patentgeschützten Arzneimitteln sind nur vier Präparate zur Therapie von Tumorerkrankungen. Vielmehr verweist Professor Dr. Wolf-Dieter Ludwig von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft auf Opioid-Analgetika. Deren Wirkung entspräche oftmals dem Morphin – bei deutlich höherem Preis. Kollegen verordnen entsprechende Präparate immer häufiger bei nicht tumorbedingten Schmerzen. Ludwig: „Das Verschreibungsverhalten der Ärzte wird nachhaltig manipuliert, unter anderem durch systematische Fehler (Bias) bei den meisten von pharmazeutische Unternehmen gesponserten klinischen Studien, gesponserten „Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen“ mit von pharmazeutischen Unternehmen honorierten „Meinungsführern“ als Referenten und kostenlos an Ärzte verschickten „Fachzeitschriften“.“ Der Wissenschaftler bemängelt, scheinbar niedrigere Nebenwirkungen von Oxycodon plus Naloxon beziehungsweise Tapentadol seien in Studien mit „kritikwürdigem Design“ oder „nicht äquivalenter Vergleichstherapie“ nachgewiesen worden. Innovation hat ihren Preis Ergänzend zu diesen Fakten aus 2011 gibt der AVR auch Informationen zur aktuellen Lage. Wie das Bundesministerium für Gesundheit berichtete, stiegen Ausgaben für Medikamente im ersten Halbjahr 2012 um 3,1 Prozent. Dahinter stecken vor allem drei neuen Arzneistoffe, nämlich Abirateron, Fingolimod und Telaprevir, mit jährlichen Therapiekosten zwischen 30.000 und 45.000 Euro. Entsprechende Verschreibungen summieren sich auf 190 Millionen Euro. Seit August kommt Ivacaftor mit hinzu, ein Arzneistoff, der bei Mukoviszidose Folgen des Gendefekts teilweise behebt – für 300.000 US-Dollar pro Jahr. Grund zur Sorge besteht aber nicht: Momentan laufen Preisverhandlungen zwischen Herstellern und dem GKV-Spitzenverband, wie im AMNOG vorgesehen. Auf dem Holzweg Damit haben Gesundheitsökonomen erneut zahlreiche Einsparmöglichkeiten aufgezeigt. Nicht jeder teilt das Herangehen von Ulrich Schwabe und Dieter Paffrath. Birgit Fischer, Hauptgeschäftsführerin des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (vfa), stellt klar, Kosten für Arzneimittel seien gegenwärtig unter Kontrolle. „Den zweiten Aspekt, die Versorgungsqualität, lässt der Arzneiverordnungs-Report unter den Tisch fallen.“ Außerdem sieht Fischer sieht die Gefahr, dass sich mehr und mehr eine „Diskussion über das Drücken der Versorgungsqualität“ entwickelt.