Wer sich in der Medizin engagiert, dem kommt bei diversen Zeitungsüberschriften oft das Grausen. Es hat den Anschein, dass Journalisten oberflächlich und unsauber arbeiten. Doch stimmt diese Annahme wirklich?
„Wie versaut ist der Medizinjournalismus?“ Dieser Titel findet sich nicht etwa in einem versteckten Blog, sondern in einem Beitrag zum „Schweizer Journalist“, geschrieben von Joel Bedetti, Träger des Zürcher Journalistenpreises 2012. Er beschreibt den Druck mächtiger Interessengruppen auf die Redaktionen von Publikumszeitschriften, wohlwollend über ihre Anliegen zu berichten. Weil in den Redaktionen nur allzu oft keine studierten Wissenschaftsexperten sitzen, fließen die Informationen von Experten oder ausgewählter Lektüre nicht selten kritiklos ins Blatt.
Wissenschaftsjournalismus - vom Aussterben bedroht?
Unter hohem Zeitdruck sind professionell geschriebene Mitteilungen von Universität, Forschungsinstitut oder Pharmafirma das Beste, was sich aus schnell zusammengesammelten Fakten herauslesen lässt. Wenn dann noch sanfter Druck des Anzeigenkunden dazukommt, bleibt die kritische und unparteiliche Distanz auch einmal auf der Strecke. Denn in den Pressestellen sitzen meist sehr gut ausgebildete Journalisten. Sie sind „Kollegen“ - die notwendige Distanz zum Redakteur fehlt. Wenn sich schließlich noch wegen mangelnder Finanzkraft Stellen in den großen und kleinen Zeitungshäusern in Luft auflösen, verwundert die Aussage des Wall-Street-Journal-Wissenschaftskolumnisten Robert Lee Hotz nicht mehr. „Die unabhängige Wissenschaftsberichterstattung ist vom Aussterben bedroht“, zitiert ihn „Nature“.
Ein Artikel in der Fachzeitschrift „Public Understanding of Science“ berichtete im letzten Jahr über den Hintergrund von Ernährungswahrheiten und -tipps in 10 führenden britischen Zeitungen. Rund drei Viertel der aufgestellten Behauptungen war nicht durch eindeutige Studienergebnisse gedeckt.
Mittelmäßiges Zeugnis für deutsche Medien
Es gibt aber auch erfreuliche Entwicklungen im Wissenschaftsjournalismus. Seit einigen Jahren beleuchtet in den USA die Initiative „Health News Review“ kritisch Medizinartikel in den Massenmedien und untersucht sie auf deren Belastbarkeit. Nebenwirkungen, Nutzen, Kosten oder mögliche Sponsoren sind vier der zehn Punkte, nach denen die Gutachter null bis fünf Sterne vergeben. Seit letztem Jahr gibt es das auch in Deutschland - geplant nach dem amerikanischen Vorbild. Medizinische Berichte für den interessierten Zeitungsleser oder Fernsehzuschauer ließ das Team um Marcus Anhäuser und Holger Wormer, Professor für Wissenschaftsjournalismus an der TU Dortmund, von jeweils zwei Gutachtern untersuchen. Nach 120 Zeugnisvergaben zogen die „Medien-Doktoren“ eine erste Bilanz.
Die fällt im Vergleich mit den USA, Japan, Australien oder Kanada gar nicht so schlecht aus. Nur 11 Beiträge erhielten keinen Stern, dafür aber auch acht den glänzenden 5er-Pack. Die Mehrheit reiht sich in der Mitte ein: 26 Berichte mit zwei Sternen und 27 mit drei. Bei der Bestnote sind es allerdings - im Vergleich zur US-Medienkritik - in Deutschland nur knapp halb so viele erstklassige Beiträge, die über die Massenmedien Neuigkeiten aus der Medizin liefern. Zu den Kriterien zählen aber auch zusätzlich zu den US-Qualitätsmarkern noch journalistische Kriterien wie Originalität von Thema und Text, Wahrheit und Verständlichkeit.
Fakten - aber bitte mit Beleg
Und dort, beim Belegen von Behauptungen durch Fakten, liegen in vielen Fällen die Schwächen des Beitrags. Rund drei Viertel der Untersuchungsobjekte führte ungenügende Belege für die aufgestellten Behauptungen an, fast genauso viel sprachen nicht über den medizinischen Nutzen und rund sieben von zehn Artikeln ließen mögliche Nebenwirkungen unter den Tisch fallen. Auch diese Schwächen teilt sich Deutschland mit den nordamerikanischen Partnern.
Mehr Qualität bitte!
Wer konkret kritisiert wird, wird es möglicherweise das nächste Mal besser machen. Damit aber noch weitaus mehr Redaktionen und freie Journalisten profitieren, findet der interessierte Medizin-Schreiberling beim Medien-Doktor auch „Praxistipps“ mit den Barrieren und Hindernissen vor dem Fünf-Sterne-Beitrag. „Wie komme ich an Primärliteratur?“ „Wie erkenne ich, ob eine Studie, die die PR in den Himmel hebt, auch wirklich hält, was sie verspricht?“ oder „Ist mein Experte wirklich unabhängig?“ Elegant diesen Fallen auszuweichen und doch den Leser für das Thema begeistern, das ist im hektischen Betrieb einer Redaktion nicht leicht. Gerade für Freelancer gilt, dass sie ohne Mischkalkulation - sauberer Journalismus plus Öffentlichkeitsarbeit für verschiedene oder einen Auftraggeber, eigentlich kaum mehr überleben können.
Kleine Sünden überleben lange...
Der Etat einer Redaktion erlaubt kaum mehr lange Recherchezeiten und -reisen. Die Folge sind dann „kleine Abweichungen“ vom Ethos des unabhängigen Berichterstatters. Die Berliner TAZ hatte vor einem dreiviertel Jahr den Mut, ihre „Redaktionssünden“ öffentlich im Blatt einzugestehen. Sie ließ sich etwa Reisen von Sponsoren bezahlen oder verließ sich bei Bauplänen für neue Kraftwerke auf eine - nicht unabhängige - Quelle.
Vor einigen Jahren ließ sich die Vorsitzendes des Verbands deutscher Medizinjournalisten (VDMJ), Maria Lange-Ernst, mit den Worten zitieren: „Ich selbst bin freie Journalistin und unter anderem Pressesprecherin des Berufsverbands der Frauenärzte. Das eine geht in das andere über.“ Die Vermischung von PR akzeptierten die Mitglieder nicht. Ihre Vorsitzende musste zurücktreten. Seitdem bestehen die Standards des VDMJ auf eine strikte Trennung der beiden Sparten und Kennzeichnung von Beiträgen für die Öffentlichkeitsarbeit.
„Hände weg vom Boulevard“?
Wer sein Medizin-Wissen nur aus der örtlichen Regionalzeitung bezieht, ist fast immer weniger gut informiert als die Leser von FAZ, Süddeutsche Zeitung oder der ZEIT. Denn die besseren Geschichten schreiben Medizinjournalisten, auch wenn sie kein Journalistikstudium haben. Jedenfalls glauben das David Henry von der Universität Toronto und seine Mitarbeiter anhand einer fünfjährigen Studie in Australien beweisen zu können. Aber auch Profis profitieren von regelmäßiger Weiterbildung, wie sie der Medien-Doktor angefangen hat. Dass er da hineinstößt, wo vorher eine Lücke war, zeigt seine Nominierung für den Grimme-Online-Award im letzen Jahr. Zusammen mit dem Grimme-Preis für Fernsehen und dem Deutschen Radiopreis des Grimme-Instituts zählt er zu den renommiertesten Auszeichnungen, die der deutsche Journalismus zu vergeben hat.
Dr. Andreas Unterberger, ehemaliger Chefredakteur der „Wiener Zeitung“, riet Medizinern vor einigen Jahren: „Will ein Arzt wirklich seriös über Chancen und Risiken einer neuen Therapie oder Forschung informieren, dann gibt es nur eines: „Hände weg von Boulevard-Medien.“ Und weiter: „Freilich: Wer sieht sich nicht selbst gern im Fernsehen oder sein Bild in der Zeitung?“
Der Deutsche Presserat empfiehlt für Medizinartikel, weder unbegründete Hoffnungen aber auch keine Befürchtungen zu wecken - nach dem Motto: „Du sollst nicht schaden.“ Im Journalismus gilt jedoch auch: „Du sollst nicht langweilen.“ Beides nebeneinander sollte doch möglich sein.