Kaum Medizinstudent, muss man auch schon Experte für alle Krankheiten und Gebrechen im Bekanntenkreis sein. Ob Schnupfen oder Ekzem, es wird eine Einschätzung erwartet. Doch was ist mit der eigenen Gesundheit? Verwandelt uns das Medizinstudium in Hypochonder?
Für viele angehende Ärzte dürfte das kein allzu abwegiger Gedanke sein. Mit der Flut an Lernstoff kommt auch eine Flut an Möglichkeiten, den eigenen Körper ganz neu zu beurteilen. Ist das Zittern normal? Was ist noch Stress, was schon Depression? Oder der Klassiker: Nach einer Woche Sportentzug und Kaffeekur am Schreibtisch beginnen Leiste und Magen zu ziehen. Da kommt natürlich keine andere Selbstdiagnose in Frage als Leistenbruch und Magengeschwür – wurde das Wissen darüber doch in unzähligen Praktika und Seminaren durchgekaut. Und schon ist ein weiteres Mal die Praxisgebühr fällig.
Wie viele Studenten seines Jahrgangs, hat auch Maximilian Hagen sich selbst schon kritisch unter die Lupe genommen. Er ist im vierten Semester an der Uni Münster eingeschrieben und sagt: „Seit Beginn des Studiums achte ich schon mehr auf mich selbst. Und natürlich fallen einem dabei Sachen auf, die man früher einfach ignoriert hätte. Eigentlich ist das ja der Sinn der Sache, aber es kann ganz schön beunruhigend sein.“
Ob dieses Massenphänomen aber schon krankhaft ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Auf der Suche nach Antworten kann ein Psychologe wie Dr. Michael Witthöft weiterhelfen. Er arbeitet im Bereich der klinischen Psychologie und Psychotherapie der Uni Mainz und weiß: „Wichtig für die Entwicklung von schwer wiegenden Krankheitsängsten ist vor allem eine erhöhte Disposition.“ Niemand verfalle allein durch ein Studium in die Hypochondrie.
Frühkindliche Sensibilisierung
Wegbereitend für Ängste dieser Art sei vielmehr schon der frühkindliche Umgang mit Krankheit. Hier beginne die Sensibilisierung durch den Umgang der Eltern mit Wehwehchen und körperlichen Gebrechen. Daneben wiesen typische Hypochonder "häufig eine erhöhte allgemeine Ängstlichkeit auf", sagt Witthöft.
Der verstärkten Selbstwahrnehmung folge eine Fehlinterpretation der eigenen Gesundheit. So entstünde aus der gerichteten Aufmerksamkeit auf einzelne Körperregionen plötzlich echter Schmerz. "Vor allem das Angebot im Internet ist für Menschen mit großer Krankheitsangst eher Fluch als Segen. Ein Hypochonder, der viel googelt, entwickelt noch mehr Ängste."
Massive Konfrontation zu Studienbeginn
Für die Bedenken, die den Medizinstudenten hin und wieder verfolgen, hat der Psychologe eine mildere Erklärung: Er spricht von einer fluktuierenden Hypochondrie, die bereits wissenschaftlich untersucht wurde. In einer Arbeit aus dem Jahr 2010 stellten Forscher der Universität von Tel Aviv fest, dass sich Mediziner zu Beginn ihres Studiums ordentlich verängstigen lassen. "Die massive Konfrontation mit Krankheit zu Beginn des Studiums würde in vielen Köpfen Grübeln auslösen", so Dr. Witthöft von der Uni Mainz. Mit der Zeit jedoch setze ein Gewöhnungseffekt ein. Und genau darin unterscheide sich ein Gesunder von einem echten Hypochonder.
Medizinstudenten entwickeln mit der Zeit - parallel zu ihrem Wissen um die Krankheit - eine Coping-Strategie, die den gelernten Stoff in einen realistischen Rahmen einordnet. "Nach dem Physikum war es für mich nochmal richtig schlimm, da stürzten die ganzen Krankheiten auf einen ein, von denen man in der Vorklinik noch nichts gehört hatte", verrät eine Medizinstudentin. "Aber je mehr Differentialdiagnosen man drauf hatte, desto besser wurde es."
So wird aus dem anfangs vermuteten Leistenbruch - realistisch geprägt - der Muskelkater und das Zittern wird zum Ausdruck des akuten Schlafmangels. Außerdem, so der Psychologe, verfügten Menschen, die sich bewusst für Berufe mit hohen Belastungen entscheiden, zum Teil über eine erhöhte Resilienz, also größere Widerstandsfähigkeit. Und zu Ende des Studiums steht an der Stelle der diffusen Krankheitsangst eine fundierte Selbsteinschätzung. Das ist zumindest das Ergebnis der israelischen Studie, die hier nachzulesen ist.
Selbsttest als Wegweiser
Wer seinen Gemütszustand dennoch selber unter die Lupe nehmen möchte, kann auf der Seite der Uni Mainz einen Selbsttest ablegen. Dort dienen 14 Fragen als erster Wegweiser. Auch die ZDF-Doku „Meine Symptome und ich“ gibt einen Einblick in das Erscheinungsbild eines echten Hypochonders.
Wen auch das nicht beruhigt, für den halten Studentenwerke und Studienberatungen in allen größeren Städten entsprechende Angebote vor. Auch eine gezielte Weiterleitung an Fachärzte kann stattfinden, wenn das bestehende Beratungsangebot für den Betroffenen oder die Betroffene nicht ausreicht. Mit den meisten Sorgen dürfte es sich allerdings genauso verhalten wie mit Klausurphasen. Augen zu und durch.