Digitale Medien nehmen uns geistige Arbeit ab. Was wir früher im Kopf erledigt haben, übernehmen heute Computer, Smartphones, und TV. Das berge immense Gefahren, warnt der Gehirnforscher Manfred Spitzer. Eine übertriebene Annahme?
Die von ihm diskutierten Forschungsergebnisse sind alarmierend: Digitale Medien hätten wie Alkohol und Nikotin Suchtpotential. Sie schaden langfristig dem Körper und vor allem dem Geist. Wenn wir unsere Hirnarbeit auslagern, lässt das Gedächtnis nach. Nervenzellen sterben ab, und nachwachsende Zellen überleben nicht, weil sie nicht trainiert werden. Besonders bei Kindern und Jugendlichen werde durch Bildschirmmedien die Lernfähigkeit drastisch vermindert. Die Folgen seien Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht, Gewaltbereitschaft und sozialer Abstieg. Spitzer zeigt die besorgniserregende Entwicklung und plädiert vor allem bei Kindern für Konsumbeschränkung, um der digitalen Demenz entgegenzuwirken.
Lernen im Gehirn
Unser Gehirn funktioniert wie ein Muskel: wird es gebraucht, wächst es, wird es nicht benutzt, verkümmert es. Studien an Londoner Taxifahrern zeigen, dass diese einen größeren Hippocampus haben als eine im Experiment hinzugezogene Kontrollgruppe. Im Hippocampus befinden sich die Zellen, die für bestimmte Orte zuständig sind, weil sie diese Orte gelernt haben. Wer sich also Orte einprägt, bringt seinen Ortspeicher zum Wachsen. Dieses Prinzip gilt auch durch Gehirnnutzung beim Musizieren, beim Jonglieren und bei Medizinstudenten beim Auswendiglernen von sehr vielen Fakten. „Durch die Technik der Gehirnbildgebung wissen wir heute, dass unser Gehirn nicht nur das komplizierteste, sondern auch das dynamischte Organ in unserem Körper ist“, schreibt Spitzer. Es verändert sich mit seinem Gebrauch. „Wer in seinem Leben viel gelernt hat, der hat viele Spuren in seinem Gehirn, die es ihm ermöglichen, sich in in der Welt zurechtzufinden und effektiv zu handeln. Man sagt auch: Er ist geistig auf der Höhe“, betont Spitzer. Beim Lernen verändern sich die Synapsen, die Verbindungen zwischen den Nervenzellen, die Leistungsfähigkeit des Gehirns wird gesteigert. Wird das Hirn hingegen nicht gebraucht, dann wird neuronale (d.h. aus Nervenzellen bestehende) Hardware abgebaut, es kommt zum geistigen Abstieg (Demenz).
Computer verbessern nicht die Lernleistung
„Gerade weil Computer uns geistige Arbeit abnehmen [..], taugen sie nicht zum besseren Lernen“, betont Spitzer. Zahlreiche Studien würden dies belegen. Lernen setzte eigenständige Geistesarbeit voraus: Je mehr und vor allem tiefer man einen Sachverhalt geistig bearbeitet, desto besser wird gelernt. „Es git keinen hinreichenden Nachweis für die Behauptung, die moderne IT würde das Lernen in der Schule verbessern“, ergänzt Spitzer. Sie führe vielmehr zu oberflächlicherem Denken, lenkt ab und habe zudem unerwünschte Nebenwirkungen, die von bloßen Störungen bis zu Kinderpornographie und Gewalt reichen. Dies ergebe sich aus den Wirkungsmechanismen von geistiger Arbeit auf unser Gehirn und den Auswirkungen der Übernahme geistiger Arbeit durch den Computer. Weder Wirkung noch Wirkmechanismus sprechen für Computer und Internet an Schulen.
Digitale Spiele hinterlassen Spuren
„Computerspiele hinterlassen zunehmende Gewaltbereitschaft, Abstumpfung gegenüber realer Gewalt, soziale Vereinsamung und eine geringere Chance auf Bildung“, warnt Spitzer. Eine japanische Untersuchung an 307 Schülern der fünften und sechsten Klasse ermittelte eine Verminderung der grundlegenden menschlichen Fähigkeit zu Mitgefühl und Empathie nach dem Konsum von Gewaltvideospielen. Mädchen verbringen übrigens deutlich weniger Zeit mit Videospielen als Jungen. Die Burschen sind daher die Problemgruppe, weil ihre intellektuellen Fähigkeiten durch Video- und Computerspiele massiv gefährdet werden. Der deutsche Kriminologe Christian Pfeiffer spricht in diesem Zusammenhang von der „verlorenen Generation der jungen Männer“. Zusätzlich berichten Lehrer bei Kindern mit Spielkonsolen von über „signifikant mehr Schulproblemen“. „Als Neurobiologe […] muss ich die Tatsache berücksichtigen, dass digitale Medien bei jungen Menschen zum Bildungsverfall führen können, dass bei ihrer Nutzung kaum sensomotorische Eindrücke entstehen und das soziale Umfeld deutliche Veränderungen und Einschränkungen erfährt“, so Spitzer.
Schlaflosigkeit, Depression, Sucht & körperliche Folgen
Weil die digitalen Medien am häufigsten von Kindern und Jugendlichen konsumiert werden, haben die dadurch verursachten gesundheitlichen Schäden alle Zeit der Welt, langfristig in vielerlei Komplikationen zu münden. Wer sich mit digitalen Medien den Schlaf raubt, vermindert seine Immunabwehr, was zu häufigerem Auftreten von Infektionskrankheiten und Krebserkrankungen führe. Weiters führe Schlafmangel zu kardiovaskulären Erkrankungen, krankhaftem Übergewicht und Diabetes. Außerdem hätten mehrere Studien belegt, dass Depressionen bei Computer- und Internetsucht wesentlich häufiger auftreten als bei Menschen mit normalem Mediennutzungsverhalten. „Gerade im Alter münden depressive Zustände mitunter in dementielle Abbauprozesse, weil der mit der Depression einhergehende zusätzliche Stress und der (bei etwa 60% aller depressiven Patienten) erhöhte Blutspiegel von Stresshormonen das Gehirn schädigt“, schreibt Spitzer. Stresshormone bewirken das direkte Absterben von Nervenzellen. Übergewicht und Diabetes verursachen langfristig Durchblutungsstörungen, die sich ebenfalls im Gehirn abspielen und ihrerseits zu einer Demenz führen können.
Obwohl Spitzers Buch seit Erscheinen die deutschsprachigen Sachbuch-Bestsellerrankings anführt, hagelt es an seinen Thesen massive Kritik: „Aufrufe zum Verzicht und eine Pädagogik der Mäßigung waren immer populäre Themen der Sachbuchliteratur. Gepaart mit Medienkritik und der Sehnsucht, durch Ausschalten auch abzuschalten und zu inniger Kontemplation sowie Kozentration auf das Wesentliche zu finden, haben sich die Werke von Neil Postman (`Wir amüsieren uns zu Tode) bis Nicholas Carr (´Wer bin ich wenn ich online bin. Und was macht mein Gehirn so lange?`) gut verkauft. Diese Bedürfnisse bedient Spitzer zuverlässig und immer mit dem Impuls des Wellenreiters. Nur argumentiert er dabei so bizarr, oberflächlich und mit verzerrten Bezügen, dass es selbst den glühendsten Anhängern seiner Ideen schwerfallen sollte, ihm in diesem Buch zu folgen“, so Werner Bartens in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung.
„Was haben Manfred Spitzer und ich gemeinsam?“, fragt Anitra Eggler, Autorin des Buches „E-Mail macht dumm, krank und arm.“ Antwort: „Wir haben beide ein provokantes Buch zum Thema Digitalisierung veröffentlicht. Der Titel klingt nach Spitzer, mein Inhalt ist das Gegenteil. Ich verdamme nicht, ich versuche zu verbessern. Denn: Keine Frage, ständige Erreichbarkeit, immer online, immer alles gleichzeitig und nichts mehr richtig, das macht weder schlanker, noch gesünder, noch entspannter oder produktiver. Das bewirkt das Gegenteil. Für dieses Erkenntnis bedarf es keiner Hirnforschung, es bedarf gesunden Hausverstandes“, so Eggler.
Und last but not least schreibt Harald Staun: „Seinen Kritikern, die zweifeln, dass es so etwas wie `digitale Demenz`überhaupt gibt, empfiehlt er (Spitzer) in seinem Buch, den Begriff doch einfach einmal zu googlen. Auf Deutsch erhalte man etwa 8.000 Einträge. Das war vor der Veröffentlichung. Heute sind es 1.040.000. Sein Buch muss sehr viele Menschen krank gemacht haben.“ Wahrscheinlich liegt die Wahrheit wie meistens in der Mitte: Zwischen den Heilsversprechen von Facebook & Co und der von Spitzer geforderten digitalen Steinzeit bleibt genügend Spielraum für eine verantwortungsvolle Nutzung der digitalen Medien.