Mit ihren Worten können Ärzte nicht nur heilen und Schmerz lindern, sondern auch verletzen und die Schmerzintensität verstärken. In ihrer Übersichtsarbeit untersuchten Mediziner, mit welchen Sätzen Ärzte ihre Patienten verunsichern und ihnen Schaden zufügen können.
Die Kehrseite des Placebo-Effektes (placebo lat. "ich werde gefallen"), die Nocebophänomene (nocebo lat. „ich werde schaden“), rückten erst in jüngster Zeit in den Fokus der Grundlagenwissenschaft und klinischen Medizin. Eine Recherche in der Datenbank PubMed am 4. September 2012 ergab 178 Einträge zum Thema „nocebo“, im Vergleich zu 157.120 Literaturstellen zum Thema „placebo“. Für ihren Beitrag über die neurobiologischen Mechansimen von Nocebophänomen recherchierten die Mediziner Winfried Häuser, Emil Hansen (Uniklinik Regensburg) und Paul Enck (Uniklinik Tübingen) in PubMed mit den Suchbegriffen „nocebo“ oder „nocebo effect“ Arbeiten, die zwischen 1960 und Dezember 2011 erschienen waren.
Definition und experimentelle Noceboforschung
Der Begriff „nocebo“ wurde ursprünglich verwendet, um den negativen Gegenpart von Placeobphänomenen zu benennen und unerwünschte von erwünschten Wirkungen eines Placebos (Scheinmedikament oder Scheinintervention) abzugrenzen. Heute werden beide Begriffe in einem weiteren Sinn verwendet: Nichtspezifische Effekte einer medizinischen Behandlung werden als Placeboeffekte bezeichnet, wenn sie nützlich sind, und als Noceboeffekte, wenn sie schädlich sind. Unter „Nocebo-Effekt“ versteht man Beschwerden und Symptomverschlimmerungen, die unter einer Scheinbehandlung und/oder durch gezielte oder unbeabsichtigte Suggestionen und/oder negative Erwartungen entstehen.
Eine Mitschuld tragen die Ärzte häufig selbst, erklärt der Psychosomatik-Experte Prof. Dr. Paul Enck gegenüber „bild der Wissenschaft“. Er kritisiert die von vielen Ärzten geäußerten „leichtsinnig dahergeredeten Verdachtsdiagnosen“. Als Nocebo-Antwort („nocebo response“) werden hingegen Beschwerden bezeichnet, die durch negative Erwartungen des Patienten und/oder (unbeabsichtigtigte negative) Suggestion der Behandler ohne eine (Schein-) Behandlung hervorgerufen werden. Aus den untersuchten Studien geht hervor, dass Noceboreaktionen durch alle Arten des Lernens erworben werden. Umgekehrt muss davon ausgegangen werden, dass solche Reaktionen, wenn sie im klinischen Alltag auftreten, sowohl durch Erwartungen wie durch Lernen in der Vergangenheit des Patienten erworben wurden.
Die richtigen Worte finden
Ärztliche Kommunikation und Therapieerwartungen des Patienten können sowohl erhebliche positive als auch negative Auswirkungen auf den Verlauf einer medizinischen Behandlung haben. „In der Medizin geht man von der Annahme aus, dass Angst und Schmerz verringert werden, wenn eine schmerzhafte Manipulation vorher angekündigt wird und man sich nach erfolgter Schmerzäußerung des Patienten mitfühlend äußert“, berichtet Winfried Häuser vom Klinikum Saarbrücken und der Klinik für Psychomatische Medizin und Psychotherapie, Technische Universität München. Eine Studie bei radiologischern Punktionen zeigte, dass Angst und Schmerz der Patienten verstärkt wurden, wenn die Ankündigung der Maßnahme negative Worte wie „stechen“, „brennen“, „wehtun“, „schlimm“ oder „Schmerz“ beinhaltete.
In einer anderen Studie wurde die Lokalanästhesie bei Schwangeren in einem Fall mit folgenden Worten angekündigt: „Wir werden Ihnen jetzt eine Lokalanästhesie geben, die den Bereich taub macht, wo wir die Epidural-Spinal-Anästhesie durchführen, damit es für Sie angenehm ist.“ Die zweite Gruppe bekam folgende Worte zu hören: „Sie werden jetzt einen Stich und ein Brennen am Rücken spüren, als hätte Sie eine Biene gestochen, das ist der schlimmste Teil der ganzen Prozedur.“ Der empfundene Schmerz war bei den Schwangeren der zweiten Gruppe signifikant stärker (Median der Schmerzintensität 5 versus 3 auf einer 11-stufigen Skala). „Die Aufklärung über mögliche Komplikationen einer Therapie und negative Erwartungen des Patienten erhöhen die Häufigkeit unerwünschter Wirkungen“, betont Häuser.
Die Ärzte befänden sich in einem ethischen Dilemma: sie sind einerseits verpflichtet, ihre Patienten über die Behandlung und ihre möglichen Nebenwirkungen zu informieren, andererseits obliegt es dem Arzt, die Risiken eines medizinischen Eingriffs für den Patienten zu minimieren, inklusive der Risiken einer Aufklärung. Die referierten Studien zeigen jedoch, dass Nocebo-Antworten durch negative Suggestionen eines Auflärungsgesprächs induziert werden können. Patienten sind dafür vor allem in existenziell bedrohlichen Situationen, wie einer Operation, einer akuten schweren Krankheit oder einem Unfall stark empfänglich.
Lösungsstrategien für das Ärzte-Dilemma
Das Ärzteteam um Winfried Häuser empfiehlt folgende Lösungsstrategien, um das Dilemma zu reduzieren:
Nocebo-Effekt bei Medikamenten
Besonders weit verbreitet dürfte der Nocebo-Effekt bei Medikamenten und deren Nebenwirkungen sein, vermuten Wissenschaftler. Wird ein Patient von der Gabe eines Mittels über dessen potentielle Nebenwirkungen aufgeklärt, so entwickeln viele Probanden ebendiese Symptome, selbst wenn sie ein Zuckerpräparat ohne Wirkstoffe erhalten haben. Die Kosten dieser Nocebo-Effekte bei Medikamenten belaufen sich allein in Deutschland laut Experten-Schätzungen auf zwei bis drei Milliarden Dollar im Jahr.
Unbeabsichtigte negative Suggestionen im klinischen Alltag