Heranwachsende mit Migrationshintergrund haben es hierzulande schwer: Sprachbarrieren und kulturelle Hürden behindern oft nicht nur ihre Integration sondern auch den Zugang zum Gesundheitssystem.
Drei von zehn Sprösslingen in Deutschland kommen aus einem Elternhaus mit Migrationshintergrund. Erste Hinweise auf deren teils schlechte gesundheitliche Situation lieferte ein Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) mit 18.000 Heranwachsenden zwischen 0 und 17 Jahren.
Gesundheitserziehung
Insgesamt hatten 2.590 der Teilnehmer zwei Elternteile mit Wurzeln im Ausland. Befragungen und Untersuchungen fanden zwischen Mai 2003 und Mai 2006 statt, eine neue Datenerhebung (Juni 2009 bis Juni 2012) wird gerade ausgewertet. Die Quintessenz: Lernen nicht schon Kinder, auf ihre Gesundheit zu achten, werden sie häufiger zu kranken Jugendlichen und Erwachsenen. Das zeigte auch ein Anfang 2012 veröffentlichter „Integrationsindikatorenbericht“ der Bundesregierung. Prävention zahlt sich für diese Zielgruppe also besonders aus.
Das dicke Problem
Eines der offensichtlichsten Resultate aus KiGGS: Kinder und Jugendliche mit beidseitigem Migrationshintergrund haben signifikant häufiger Übergewicht (19,5 versus 14,1 Prozent) und Adipositas (8,8 versus 5,9 Prozent) als der Nachwuchs deutscher Eltern. „Diese Kinder essen weitaus weniger Obst und Gemüse, konsumieren aber mehr Fast Food beziehungsweise süße Getränke“, sagt Agnes Streber, Gründerin und Leiterin des Ernährungsinstituts KinderLeicht, im Gespräch mit DocCheck. Sie sitzen öfter vor dem Fernseher beziehungsweise Computer und bewegen sich seltener – deutsche Schüler verbringen ihre Freizeit vergleichsweise häufiger in Sportvereinen.
Erschwerend kommt mit hinzu, dass Kinder mit Übergewicht ein anderes Bewegungsbedürfnis haben als schlanke Altersgenossen: „Viel der Betroffenen verlassen Sportvereine wieder, weil hier der Leistungsgedanke im Fokus steht“, so Streber. Wer nicht mithalten kann, steht schnell außerhalb dieser Gemeinschaft. „Wir setzen stattdessen sehr niedrigschwellig an: Kinder können mit ihren Eltern ohne Anmeldung vorbeikommen und beispielsweise an der Sportgruppe teilnehmen.“ Mit Angeboten allein ist es aber nicht getan, auch die Finanzierung will organisiert werden. Kurse zum Abnehmen im Bausteinsystem übernehmen zu 80 Prozent gesetzliche Krankenkassen, bei der offenen Sportgruppe ist mittelfristig eine Unterstützung durch Kommunen erforderlich.
Dennoch bleiben grundsätzliche Fragen offen: Wie weit sind die Angebote ein Bildungsauftrag, und wie weit ein Gesundheitsauftrag? Damit werden sich früher oder später Politiker der Bundesregierung zu beschäftigen haben. So oder so wäre jeder Euro gut angelegt, da aus übergewichtigen Kindern schnell Jugendliche und junge Erwachsene werden, bei denen schwerwiegende und kostspielige Folgeerkrankungen wie Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen auftreten.
Kraftlos zugebissen
Auch beim Thema Zahngesundheit schnitten Migrantenkinder der KiGGS-Studie schlechter ab als ihre Altersgenossen. Vor allem hatten Heranwachsende aus der Türkei, aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion sowie aus dem arabisch-islamischen Kulturkreis deutlich häufiger Karies. Sie putzten ihre Zähne seltener als empfohlen und nahmen Leistungen zur zahnärztlichen Prophylaxe weniger in Anspruch. Zu ähnlichen Ergebnissen kam die Barmer GEK mit ihrem „Zahnreport 2012“: Je höher der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund auf regionaler Ebene war, desto seltener wurden zahnärztliche Vorsorgeangebote genutzt. In Kreisen mit weniger als 12,4 Prozent Nicht-Deutschstämmigen gingen 75,2 Prozent in die Praxis. Zum Vergleich: Bei Gemeinden mit über 26,0 Prozent Migranten lag die Quote lediglich bei 67,1 Prozent. Die Zahlen gelten für alle Altersgruppen.
Gut geimpft
Bei der Umsetzung von Impfempfehlungen fand die KiGGS-Studie keine signifikanten Unterschiede. Einschulungsuntersuchungen aus Berlin lieferten hier neue Ergebnisse: Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund haben häufiger die erforderlichen Immunisierungen als ihre deutschen Mitschüler, etwa bei Hepatitis B (90,7 versus 86,1 Prozent), Pneumokokken (47,8 versus 42,7 Prozent) oder Meningokokken C (89,8 versus 82,3 Prozent, jeweils nichtdeutsche versus deutsche Herkunft). Weniger deutlich waren die Unterschiede bei Tetanus, Diphtherie und Poliomyelitis. Dahinter steckt die weit verbreitete Sorge vieler deutscher Eltern, Impfungen könnten ihrem Nachwuchs womöglich schaden. Sie entschließen sich vor allem, Immunisierungen gegen seltene Erkrankungen zu streichen – ein gefährlicher Trugschluss. In der Pubertät werden jedoch noch ganz andere Themen wichtig.
Frühreif oder Spätzünder?
Seit Jahren untersuchen Forscher der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, wie es um die Sexualität von Heranwachsenden steht. Im Vergleich zu deutschen Altersgenossen sind Jungen aus Migrantenfamilien früher beziehungsweise häufiger sexuell aktiv, so eine Erkenntnis. Bei Mädchen zeigen die Zahlen eine gegenläufige Entwicklung: Vor allem junge Musliminnen haben ihr „erstes Mal“ deutlich später als deutsche Mädchen, sind aber häufiger von sexueller Gewalt betroffen. Nach wie vor klären meist die Lehrer auf, wobei Verhütung und HIV-Risiken nur ein Teil der Wahrheit sind. Bis zu 20 Prozent der Jugendlichen wussten – je nach Schulform – nichts über dies Bedrohung durch Hepatitis B beim Geschlechtsverkehr, und bis zu 35 Prozent hatten noch nie etwas über den Impfschutz gehört.
Guter Rat: nicht immer teuer
Die Problemfelder sind damit recht klar umrissen, doch was tun? „Bildungsferne Schichten mit Migrationshintergrund lassen sich mit Gesundheitsmaßnahmen kaum erreichen“, weiß Agnes Streber aus ihrer beruflichen Erfahrung. Sie rät zu einer engen Vernetzung mit Schulen, Kinderärzten oder Sozialarbeitern auf regionaler Ebene: Angebote müssen in die Lebenswelt der Kinder kommen. Um kulturelle Hürden und verbale Barrieren zu überwinden, hilft Jugendlichen, aber auch deren Eltern, in ihrer Muttersprache beraten zu werden. Kliniken, Praxen sowie Apotheken in großen Städten haben diesen Service längst ausgebaut, und Kollegen mit türkischen, russischen oder arabischen Kenntnissen stehen bereit.
Ein ähnlicher Ansatz speziell für die webaffine Generation kommt aus Berlin: Das „Distributed Artificial Intelligence Laboratory“ entwickelte elektronische Guides, um Menschen mit Migrationshintergrund leichteren Zugang zum Gesundheitssystem zu ermöglichen: Ihnen hilft ein Online-Gesundheitsassistent bei der Suche nach Informationen rund um Krankheiten, Therapien oder Tipps zur Prävention in der eigenen Muttersprache.
Novitas BKK und Lilly Deutschland verfolgen mit der Aufklärungsinitiative „Diabetes gemeinsam verstehen“ ähnliche Ziele: Türkischstämmige Patienten können sich auch ohne hinreichende Deutschkenntnisse schlau machen, um ihre Krankheit besser in Griff bekommen. Diese Pilotprojekte ermutigen, bundesweit entsprechende Angebote auf die Beine zu stellen.