Welche Informationen lassen sich genomischen Daten entlocken? DocCheck stellte „OpenPCR“ auf die Probe. Nach anschließender Sequenzierung gewähren Daten Einblicke in den eigenen Körper, um Krankheiten zu vermeiden, weit bevor sie ausbrechen.
Menschliche DNA besteht im diploiden Genom aus 6,5 Milliarden Basenpaaren. Anstatt Unmengen von Sequenzdaten zu untersuchen, richtet sich das Augenmerk auf Variationen einzelner Basenpaare (Single Nucleotide Polymorphisms, SNPs). Welche Geheimnisse bergen diese ominösen SNPs?
Unser Praxistest
Die DocCheck-Redaktion hat für Sie die Probe aufs Exempel gemacht: Nachdem ein aus den USA gelieferter „OpenPCR“-Bausatz erfolgreich aufgebaut worden war, ging es in die Praxis: Der Autor isolierte in einem Münchener Labor DNA aus Epithelzellen der Mundschleimhaut. Einer gezielten Vervielfältigung interessanter Regionen stand damit nichts mehr im Weg. Unser Fazit: „OpenPCR“ hält, was die Entwickler versprechen. Mit nur wenigen Klicks ließ sich ein Temperaturprotokoll programmieren, und DNA wurde anstandslos amplifiziert. Diverse SNPs liefern neue Einblicke in den Organismus, etwa hinsichtlich athletischer Potenziale.
Alles fit im Genom
Zahlreiche Faktoren beeinflussen unsere sportliche Leistung: Training, Ernährung – und das Erbgut. Bis heute haben Humangenetiker mehr als 150 Gene identifiziert, die verschiedenste Aspekte rund um Sauerstoffaufnahme, Zellaufbau oder Stoffwechsel kontrollieren. Besonders deutlich ist der Zusammenhang beim ACTN3-Gen, es codiert in schnellen Muskelfasern für das Eiweiß alpha-Actin-3. Der Austausch einer einzigen Base im SNP rs1815739 führt zu inaktiven Genprodukten und entscheidet, ob Läufer das Zeug zum Sprinten haben oder eher im Marathon antreten sollten. Studien fanden bei vielen Kurzstreckenläufern die Basen „CC“, also zwei intakte Kopien des Gens. Fußballer hatten zumindest eine funktionsfähige Version („CT“). Auch bei Schulkindern zeigten sich Effekte im Sportunterricht: Teenager mit dem „TT“-Genotyp waren bei 40-Meter-Sprints ihren Klassenkameraden mit „CT“ oder CC“ deutlich unterlegen. Bei Ausdauer-Sportlern sind vor allem langsame Fasern aktiv: Muskeln ohne funktionsfähiges alpha-Actin-3 verbrauchen weitaus mehr Sauerstoff. Entsprechende Stoffwechselprozesse führen zu gemächlicheren Prozessen, erhöhen letztlich aber die Ausdauer.
Im Experiment nahm der Autor das SNP rs1815739 unter die Lupe: Nach Vervielfältigung via „OpenPCR“ und Sequenzierung folgte ein böses Erwachen: Der Genotyp „CT“ codiert nur für eine funktionsfähige Kopie des entsprechenden alpha-Aktin-3-Proteins. Um die eigene Karriere als Sprinter ist es eher schlecht bestellt.
Gute Metabolisierer – schlechter Metabolisierer
Ärzte und Apotheker möchten eher in Erfahrung bringen, wie Fremdstoffe individuell umgesetzt werden. Das beginnt beim allseits präsenten Coffein – der Autor gehört zu den schnellen Metabolisierern. Einem abendlichen Espresso steht nichts im Wege. Kritischer sind schon Antikoagulantien wie Warfarin: Dieses Cumarin-Derivat hat eine geringe therapeutische Breite – bei zu niedrigen Dosen können sich trotz Pharmakotherapie Blutgerinnsel bilden, während zu hohe Mengen des Arzneistoffs die Blutungsneigung verstärken. Dahinter stecken Polymorphismen im VKORC1-Gen sowie in den Cytochromen CYP2C9 und CYP4F2. Als Folge einer erhöhten Warfarin-Sensitivität wäre beim Autor die Dosis deutlich zu verringern.
Aufgrund einer Mutation im SNP rs7987675 fällt die Wirkung von Interferon beta ebenfalls stärker aus als durchschnittlich zu erwarten wäre. Bei Naltrexon könnten Ärzte beim Autor durch Abweichungen im SNP rs1799971 mit deutlich besseren Therapieerfolgen rechnen. Dieser Opioidantagonist wird bei Alkohol-Abusus eingesetzt. Unter dem Cholesterinsenker Simvastatin wiederum käme es häufiger zu Myopathien als Nebenwirkung – schuld ist eine Mutation im SNP s4149056. Die Beispiele zeigen, wie wichtig pharmakogenomische Ansätze zur Dosisfindung und zur Vermeidung von Nebenwirkungen sind. In Zukunft werden entsprechende Untersuchungen mit Sicherheit weitaus häufiger durchgeführt, bevor Ärzte ein Medikament verschreiben.
Gene für das Leben
Aus den Daten von „23andMe“ lassen sich noch allerlei interessante bis obskure Informationen ableiten: Der Autor nimmt den Geschmack zahlreicher Bitterstoffe wahr (trifft zu), hat leicht gelocktes, rotblondes Haar (korrekt) und eine schwache Lactose-Intoleranz (bislang unentdeckt). Zumindest erklärt das SNP rs2472297, warum am Morgen ohne Kaffee oder Tee nichts läuft. Alle hierfür zu Rate gezogenen genomweiten Assoziationsstudien (GWAS) bewerten Wissenschaftler hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit. Auch gehen ständig neue Publikationen, die eine Assoziation bestimmter SNPs mit Phänotypen nahelegen, in das Portal ein. Es lohnt sich, regelmäßig reinzuklicken!
Die Community forscht
Von SNPs profitieren nicht nur Patienten, sondern auch Forscher: Die Portalbetreiber rufen regelmäßig zur Teilnahme an wissenschaftlichen Studien auf, momentan befinden sich 23 Projekte im Pool – von Nebenwirkungen diverser Antidepressiva über Rosazea und Allergien beziehungsweise Asthma bis hin zu genetischen Markern für die Lebenserwartung. Größere Projekte gehen den Grundlagen myeloproliferativer Neoplasien, Parkinson oder Sarkomen auf den Grund. Die Betreiber von „23andMe“ sehen sich aber keineswegs als Konkurrenz zur etablierten Forschung. In einem offenen Brief laden sie Kollegen ein, mitzuarbeiten: „23andMe ist eine neue, effizientere Art der Genforschung.“ Obwohl es moderne Technologien ermöglicht hätten, effizienter als je zuvor Genotyp und Phänotyp zu verknüpfen, sei die Erhebung von Daten nach wie vor ein teures, zeitaufwändiges Unterfangen. Große Studien, die über klassische Wege der Patientenrekrutierung nicht durchführbar wären, lassen sich mit einer großen Gemeinschaft dennoch realisieren. Wer seine Einwilligung gegeben hat, nimmt automatisch an Forschungsprojekten teil – ein Online-Fragebogen reicht zusammen mit den bereits generierten Sequenzdaten aus.
Zahlreiche Papers
Dieses Modell hat Erfolg: In den letzten Jahren sind aus Daten von „23andMe“ etliche Fachartikel in unabhängig begutachteten Journalen veröffentlicht worden. Bei einer genomweiten Assoziationsstudie verglichen Forscher SNPs von 3.400 Parkinson-Patienten mit 29.000 Kontrollen – die bislang größte einzelne Parkinson-GWAS-Kohorte. Im Gegensatz zur herkömmlichen Datenerfassung nahmen Community-Mitglieder online teil. Prompt fanden Wissenschaftler zwei neue Assoziationen und konnten 20 bereits veröffentlichte Zusammenhänge bestätigen. „Wir schätzen, dass genetische Faktoren mindestens ein Viertel der Variabilität von Parkinson-Erkrankungen erklären“, sagt Chuong B. Do von „23andMe“. Bislang waren aber nur sechs bis sieben Prozent bekannt.
Do: „Unsere Studie zeigt das Potenzial webbasierter Methoden für die Datenerhebung, um neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Entstehung von Krankheiten zu gewinnen.“ Durch die Verifizierung anhand bekannter Zusammenhänge konnten Forscher auch eindrucksvoll unter Beweis stellen, wie leistungsfähig ihre Community ist.