Mit einem Bericht über Zuweisungen gegen Entgelt sorgte „Frontal21“ für Schlagzeilen. Zwar dementieren Orthopäden die Anschuldigungen, eine Frage bleibt dennoch: Warum ist Deutschland Spitzenreiter bei Knie- und Hüft-Endoprothesen?
Ein trauriger Rekord: „In Deutschland werden im Jahr etwa 200.000 künstliche Hüftgelenke eingesetzt, und im übrigen Rest von Europa sind es gut 300.000“, sagt Professor Dr. Joachim Grifka, Direktor der Orthopädischen Klinik, Uni Regensburg. Er spricht von einer „unverhältnismäßig hohen Zahl“ an Endoprothesen. Pro 100.000 Menschen führten Chirurgen in 2010 Statistiken zufolge 296 dieser OPs aus, in Norwegen waren es lediglich 232 und in Frankreich 224. Ähnliche Zahlen auch bei Kniegelenken: Hier zu Lande waren es 213 Eingriffe unter 100.000 Einwohnern (2010), im Vergleich dazu liegen beispielsweise Norwegen (75 pro 100.000) und Frankreich (119 pro 100.000) bei etwas mehr als einem Drittel beziehungsweise der Hälfte dieser Menge.
Üble Geschäfte mit Patienten?
„Wir vermuten, dass durchaus einige Operationen auch aus wirtschaftlichen Gründen heraus passieren“, so Dr. Boris Augurzky vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung, Essen. Er schätzt, nur 40 Prozent der Steigerung könne man auf demographische Einflüsse zurückführen. Der Rest hat laut „Frontal21“ ökonomische Ursachen: Je mehr Menschen operiert werden, desto mehr Vergütung gibt es auch von Leistungsträgern – trotz Abschlägen bei Überschreitung des Budgets. Um überhaupt Patienten in das eigene Haus zu bekommen, seien laut dem TV-Magazin sogenannte „Kooperationsverträge“ gang und gäbe, über die niedergelassene Kollegen als Honorarärzte zwischen 1.000 und 1.800 Euro pro Eingriff bekämen. Manche Kliniken zahlen auch, ohne dass operative Leistungen erbracht wurden. Ansonsten lautet die Drohung, künftig niemanden mehr zu schicken. Handelt es sich hier nur um wenige schwarze Schafe, die eine ganze Branche in Misskredit bringen?
Korruption als Kavaliersdelikt
Untersuchungen der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Auftrag des GKV-Spitzenverbands zeigen, dass „Frontal21“ nicht nur Einzelfällen auf die Spur gekommen ist. Vielmehr bestätigten 14 Prozent der befragten Ärzte, 24 Prozent der stationären Einrichtungen sowie 46 Prozent der nichtärztlichen Leistungserbringer, das Vorgehen sei branchenüblich. Kollegen, denen ein entsprechendes Angebot unterbreitet wurde, wandten sich nur in den wenigsten Fällen an die Ärztekammer (elf Prozent) beziehungsweise an eine Clearingstelle (drei Prozent). Professor Dr. Kai-D. Bussmann, Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg, ist darüber nicht erstaunt: „Die von Studienteilnehmern wahrgenommene gängige Praxis der Zuweisungsvergütung lebt in vielen Fällen davon, dass das Entdeckungsrisiko für den einzelnen Akteur relativ gering und die Nachteile für den Berufsstand sowie das Gesundheitssystem insgesamt weit entfernt sind.“
Kollegen unter Generalverdacht
Gegen solche Anschuldigungen protestieren der Berufsverband der Fachärzte für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU) sowie die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU). In einer Stellungnahme heißt es, Tatbestände würden „im Sinne eines Generalverdachts einer ganzen Berufsgruppe unterstellt“. Allein aus der Zahl an OPs lasse sich kein Fehlverhalten ableiten. „Vorwürfe, offen artikulierte beziehungsweise unterschwellig zum Ausdruck gebrachte Vermutungen, die Krankenhäuser würden medizinisch nicht notwendige Behandlungen erbringen, um ihre Erlöse zu steigern, sind dezidiert zurückzuweisen“, stellt Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, klar. Allerdings fordern Fachgesellschaften, in Zukunft verstärkt Wert auf konservative Therapien zu legen, um beispielsweise Hüftoperationen erst in späteren Jahren durchzuführen. Ebenfalls wird ein angemessenes Verhältnis von Kooperationsärzten zu angestellten Fachärzten verlangt. Das ist leichter gesagt als getan.
Kompetenz von außen
Viele Kliniken sind gerade durch den Ärztemangel gezwungen, auf niedergelassene Kollegen zurückzugreifen. Bereits 2011 haben Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung herausgefunden, dass bundesweit 3.000 bis 4.000 Kollegen als Honorarärzte arbeiten, darunter etwa 800 sogar täglich. An der Spitze steht hier die Anästhesiologie (41,4 Prozent), gefolgt von der Allgemeinmedizin (11,7 Prozent), der inneren Medizin (11,3 Prozent), der Gynäkologie (8,2 Prozent) und der Allgemeinchirurgie (7,9 Prozent). Andere Disziplinen wie Pädiatrie (2,3 Prozent), Psychiatrie (2,3 Prozent) oder Dermatologie (1,3 Prozent) sind eher selten. Ohne externe Kollegen hätten viele Kliniken Probleme, da sie eine zunehmende Spezialisierung in Diagnostik und Therapie kaum noch selbst umsetzen können.
„Vertraglich ungeklärt“
Auf der anderen Seite gibt es auch Schwierigkeiten: „Die Integration der honorarärztlich tätigen Operateuren in diese Abteilungen ist nicht unproblematisch, da an vielen Stellen vertraglich ungeklärt“, stellen Unfallchirurgen und Orthopäden in einem Positionspapier fest. Hier kommen vor allem Aspekte der Transparenz und der Qualitätssicherung ins Spiel. Niedergelassene Kollegen sollten etwa Nebentätigkeiten offenlegen, die Klinikinteressen zuwiderlaufen. Auch hat die Abrechnung nach der Gebührenordnung für Ärzte oder angelehnt an diagnosebezogene Fallgruppen zu erfolgen, Zuweisungen gegen Entgelt werden kategorisch abgelehnt.
Handel mit Hüften
Dem GKV-Spitzenverband und der AOK gehen entsprechende Aussagen nicht weit genug. Sie fordern, über ein Zertifikatesystem wie beim Klimahandel unnötige Operationen einzudämmen – anfangs für Knie- und Hüft-Endoprothesen. „Wir prüfen derzeit die Idee, einen Handel mit Zertifikaten für Mehrleistungen bei planbaren Leistungen einzuführen“, erklärt Johann-Magnus von Stackelberg, stellvertretender Vorstandschef des GKV-Spitzenverbands. Kliniken könnten von anderen Häusern, die ihre Leistungsmengen in diesem Bereich nicht ausschöpfen, über eine elektronische „Börse“ Zertifikate erwerben, anstatt Abschläge in Kauf zu nehmen. Doch selbst innerhalb der AOK besteht Uneinigkeit. Während Günter Wältermann, Chef der AOK Rheinland/Hamburg, die Option „zumindest ernsthaft prüfen“ möchte, werde laut Dr. Helmut Platzer, Chef der AOK Bayern, „ein falsches Signal in einen fehlentwickelten Markt gesandt“. Platzer fordert, die absolute Zahl an OPs zu verringern, welche momentan „weit jenseits dessen liegt, was vergleichbare Gesundheitssysteme kennen“, anstatt nur Eingriffe zwischen Klinken hin- und herzuschieben. Das ist Musik in den Ohren von Jens Spahn (CDU). Er droht schon länger, „solche Vergütungssysteme zu regulieren oder gar ganz zu verbieten“.
Strukturelle Probleme lösen
Über einen Zertifikatehandel werden sich grundlegenden Probleme im Gesundheitssystem nicht in Luft auflösen: Während manche Regionen unterversorgt sind, herrscht in Ballungsräumen ein Übergebot an Kliniken – und damit teilweise ein Existenzkampf, der sich auch durch „Gelenkbörsen“ kaum entspannen wird. In einem Punkt besteht aber schon jetzt Klarheit: Mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz hat die Regierung seit Januar 2012 auch ein sozialrechtliches Verbot der Zuweisung gegen Entgelt eingeführt (§ 73 Abs. 7 SGB V).