Als kürzlich das „Gesetz zur Änderung des Transplantationsgesetzes“ in Kraft trat, konnte sich niemand mehr darüber freuen - zu schockiert waren Ärzte und Politiker über den Organspendeskandal. Analysen zeigen weitere Lücken im System.
Herzen, Nieren, Lungen und Lebern werden mehr und mehr zur Mangelware. Ein Faktor ist die geringe Bereitschaft vieler Menschen, sich mit Themen rund um den eigenen Tod auseinanderzusetzen. Außerdem häufen sich aufgrund der steigenden Lebenserwartung Alterserkrankungen, die nur durch eine Organtransplantation behoben werden können. Spenderorgane werden rar, und manche Ärzte fanden ihren eigenen Weg, um an Transplantate zu kommen. Falsche Laborwerte, echtes Organ Eine Schlüsselrolle im Organspende-Skandal spielt der frühere Leiter der Göttinger Transplantationschirurgie. Er soll – zusammen mit dem vorläufig vom Dienst suspendierten Leiter der Abteilung Gastroenterologie – in mindestens 23 Fällen Patienten am System vorbei zu neuen Lebern verholfen, bestreitet die Vorwürfe aber. Durch gefälschte Laborparameter manipulierte er MELD-Scores (Model for End-stage Liver Disease), die als Maß für den Schweregrad von Lebererkrankungen dienen, und bekam schneller Organe von Eurotransplant zugeteilt. Der unter Verdacht stehende Chirurg hatte von 2003 bis 2008 als Oberarzt in Regensburg gearbeitet. Schon damals kam es zu Unregelmäßigkeiten: Ausländische Patienten meldete er bereits Wochen vor deren Einreise bei Eurotransplant an – unter seiner deutschen Klinikadresse. Und eine Leber, eigentlich für das bayerische Klinikum bestimmt, wurde im Jahr 2005 nach Jordanien gebracht. Trotz eingehender Untersuchungen der Ständigen Kommission Organtransplantation bei der Bundesärztekammer blieben Konsequenzen aus. Unbescholten folgte der Arzt im Jahr 2008 einem Ruf nach Göttingen als neuer Leiter der Transplantationsmedizin. Jetzt hat Bayerns Staatsminister für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Wolfgang Heubisch, den Chef des ehemaligen Regensburger Oberarztes beurlaubt, und zwar wegen Verletzung seiner Aufsichtspflicht. Alle Betroffenen sind um Schadensbegrenzung und Aufklärung bemüht. . Doch das System hat weitere Lücken: Auch in der Hamburger Uniklinik wurde eine Teilleber nicht über die Warteliste vergeben – angeblich durch „Kommunikationsfehler“. Manipulation auf der Überholspur Finden sich für Organe keine passenden Empfänger, löst Eurotransplant ein beschleunigtes Vermittlungsverfahren aus. Das Procedere greift auch, sollten drei (bei Nieren fünf) Kliniken das Transplantat ablehnen beziehungsweise Spender Vorerkrankungen haben, zu alt oder zu übergewichtig sein. Gibt es regional ebenfalls keine Interessenten, darf eine Entnahmeklinik selbst entscheiden, was mit Herz, Niere oder Leber passiert. Diese Regelung soll verhindern, wertvolle Organe zu verlieren, lässt sich aber auch für eigene Zwecke instrumentalisieren. Darauf wiesen jetzt Volksvertreter im Deutschen Bundestag hin. Kollege Dr. Harald Terpe von den Grünen erhielt als Antwort auf eine kleine Anfrage vom Bundesministerium für Gesundheit deutliche Zahlen: Im letzten Jahrzehnt stieg die Zahl beschleunigter Verfahren bei Herzen von 8,4 Prozent (2002) auf 25,8 Prozent (2012), bei Lungen kletterte der Wert von 10,6 auf 30,3 Prozent, bei Nieren von 4,0 auf 9,6 Prozent und bei Lebern von 9,1 auf 37,1 Prozent. An der Spitze liegt die Transplantation von Bauchspeicheldrüsen. Hier explodierten beschleunigte Vergaben von 6,3 auf 43,7 Prozent. Zwischen Demographie und Mauschelei Zwar interpretieren Regierungspolitiker entsprechende Tendenzen mit dem zunehmenden Alter von Spendern. Zweifel an dieser Argumentation sind jedoch angebracht: Bereits 2009 kritisierte das IGES-Institut mögliche Manipulationen aufgrund des geringen Standardisierungsgrads beschleunigter Vermittlungsverfahren. Eugen Brysch, Deutsche Hospiz Stiftung, spricht sogar von einer „Einflugschneise für Manipulationen“. Nach seiner Einschätzung lasse sich der extreme Anstieg nicht allein damit erklären, dass das Alter der Spender generell gestiegen sei. Aber auch die reguläre Warteliste hat ihre Schwächen. Warteliste: Muster ohne Wert? Bereits vor einem Jahr diskutierten Experten im „Lancet“ das Phänomen von Wartelisten mit Organempfängern. Professor Rinaldo Bellomo, Melbourne, und Dr. Nereo Zamperetti, Vicenza, kamen zu dem Schluss, nur ein kleiner Teil der potenziellen Empfänger stünde tatsächlich für OPs bereit. In den USA waren etwa bei Herztransplantationen 55 Prozent der Patienten zwei Jahre und mehr inaktiv, und bei Lebertransplantationen lag der Wert bei 49 Prozent. Daran können falsche Kontaktdaten schuld sein, aber auch Infekte oder chronische Vorerkrankungen, die Eingriffe unmöglich machen. Bellomo und Zamperetti fordern deshalb härtere Eingangskriterien – und zwar nicht nur unter medizinischen, sondern auch unter sozialen Kriterien: „Denn was ist, wenn eine Transplantation nicht den Wünschen des Patienten entspricht?“, heißt es in dem Beitrag. Hinter diesen Überlegungen steckt eine nach wie vor geringe Bereitschaft zur Organspende – auch die Regierung ist mittlerweile aktiv geworden. Neues aus der Gesetzesküche Mit dem Transplantationsgesetz will das Bundesministerium für Gesundheit Lebendspender medizinisch und finanziell besser absichern. Sie sollen über die Kasse des Empfängers versorgt werden, auch bei gegebenenfalls nötigen Anschlussbehandlungen. Ab 1. November gilt auch die heiß diskutierte Entscheidungslösung. Damit sind Kassen in der Pflicht, ihre Versicherten regelmäßig über die Bereitschaft zur Organspende zu befragen. Laut Wolfgang Zöller (CSU), Patientenbeauftragter der Bundesregierung, sei nach dem Skandal aber zu befürchten, dass viele Menschen lebenswichtige Spenderorgane nicht erhielten. Einer Umfrage von YouGov zufolge ist das bereits jetzt der Fall. „Was hier gemacht wurde, wird in Zukunft viele Menschen leider das Leben kosten.“ Zwar soll eine Prüfungskommission bei der Bundesärztekammer in Zukunft sowohl Entnahmekliniken als auch Transplantationszentren strenger überwachen. Ob dadurch weiteren Manipulationen vorgebeugt werden kann, bezweifeln Experten. Spitzentreffen im BMG Mittlerweile haben sich Spitzenvertreter der Ärzteschaft, der Kliniken, der Krankenversicherungen, der Deutschen Stiftung Organtransplantation und von Eurotransplant mit Verantwortlichen aus dem Bundesgesundheitsministerium getroffen. In ihrer gemeinsamen Erklärung fordern sie mehr Transparenz von Entscheidungen, unter anderem durch das „Mehraugenprinzip“. Fehlverhalten soll mit berufsrechtlichen Sanktionen bis zum Entzug der Approbation geahndet werden. Politiker wollen auch über Zuständigkeiten nachdenken: „Offenkundig ist die Organspende bei der Deutschen Stiftung Organspende, Bundesärztekammer und Eurotransplant nicht in den allerbesten Händen“, sagt Kathrin Vogler (Die Linke). Rückendeckung erhält sie von Professor Dr. Wolfram Höfling, Institut für Staatsrecht an der Universität Köln: „Der Staat muss seiner Steuerungs- und Kontrollfunktion endlich nachkommen. Es geht hier um Leben und Tod, und das kann man nicht einer unreglementierten Selbstverwaltung überlassen.“ Ob solche "Organbürokratien" in der Lage sind, schnellere und bessere Entscheidungen zu treffen, müsste allerdings erst bewiesen werden.