30 Prozent aller Erwachsenen leiden unter funktionellen Magen-Darm-Beschwerden - davon 30 Prozent an einem Reizmagen und 50 Prozent an einem Reizdarm, auch Irritable Bowel Syndroms (IBS) genannt.
Üblicherweise übt das Gehirn keinen Einfluss auf die Magen-Darm-Motilität aus. Der Gastrointestinaltrakt hat mit seinen Neuroendokrine Zellen ein autarkes „Gehirn“. Diese enterochromaffinen bzw. enterochromaffin-ähnlichen Zellen befinden sich im Epithelgewebe des Verdauungstrakts. Die enterochromaffinen Zellen im Dünndarm sondern Serotonin ab, das vor allem Einfluss auf die Darmmotilität hat, indem es die Muskelzellen des Darm aktiviert. Enterochromaffine Zellen detektieren Aromastoffe in der Nahrung und steuern so die Verdauung. Der Darm kann also riechen.
Die enterochromaffin-ähnlichen Zellen (ECL-Zellen) der Magenschleimhaut stimulieren durch Histaminausschüttung die Magensäureproduktion der Salzsäure-sezernierenden Belegzellen des Magens. Nach Entzündungsreaktionen oder anderen Magen-Darm-Erkrankungen melden die enterochromaffinen Zellen Signale an das Gehirn. Dieses kann diese nicht verarbeiten und es kommt zu einer Fehlfunktion. Die Folge ist eine Überaktivität der enterochromaffinen Zellen mit Freisetzung von Serotoin und anderen Mediatoren. Weiterhin findet sich eine Vermehrung von Entzündungszellen wie T-Lymphozyten in der Mukosa und eine Freisetzung von Zytokinen.
Resultat ist eine gestörte Magen-Darm-Motilität deren Folge Übelkeit sein kann. Der kleinste gemeinsame Nenner ist das enterale Serotonin sowie das zentrale Dopamin. Beide Transmitter regeln Motilität und sind für die Entstehung von Übelkeit verantwortlich. Auch bei Erkrankungen wie Migräne spielt Serotonin eine Rolle, ein Begleitsymptom ist die Übelkeit.
Leitlinie definiert Vorgehen
Nach der aktuellen S-3 Leitlinie müssen folgende Aspekte gleichzeitig vorhanden sein, um die Diagnose IBS zu stellen:
Obwohl die Diagnose RDS die Lebenserwartung nicht verkürzt, ist die Beeinträchtigung der Lebensqualität beträchtlich. Deshalb stellt auch aus sozioökonomischer Sicht die Erkrankung eine Belastung dar.Keine Kausaltherapie
Für das Reizdarmsyndrom existiert weder eine kausale Behandlung noch eine Standardtherapie. Viele der eingesetzten und oft wirksamen Substanzen sind für diese Indikation nicht zugelassen und werden off-Label angewendet. Die Therapie orientiert sich am Subtyp der vom Stuhlverhalten bestimmt wird:
In der Therapie des Reizdarmsyndroms werde u.a. Ballaststoffe, Laxantien, Probiotika, Sekretagoga, Phytopharmaka, Spasmolytika, 5-HT3-Rezeptorantagonisten, Oioidderivate (Loperamid), und Entschäumer eingesetzt. Nicht alle sind für die Indikation zugelassen oder die Evidenz bewiesen.Ballast nimmt Beschwerden
„Ballaststoffe zeigen sich bei der Behandlung von Obstipationsbeschwerden durch Vergrößerung des Stuhlvolumens mit konsekutiver Anregung der Darmmotilität als effektiv, und eine Therapie sollte zunächst damit begonnen werden, so die S-3-Leitlinien. Nachteilig ist, dass durch die Vergärung Faulgase entstehen und der entstehende Meteorismus die Beschwerden des Betroffenen teilwseise verschlimmert. Bei wasserlöslichen Ballaststoffen wie Flohsamen ist diese unerwünschte Wirkung geringer ausgeprägt.
Probiotika für den Darm
Das Angebot an Bakterienpräparaten ist groß und nicht jedes Produkt ist sinnvoll. Monopräparate mit Milchsäurebakterien beispielsweise werden von vielen Personen nicht vertragen. Paradoxerweise bekommen sie nach der Anwendung noch mehr Durchfall. Der Grund ist eine Lactoseunverträglichkeit. Auch Monosubstanzen mit Colibakterien sind im Urlaub problematisch. Diese müssen meist kühl transportiert und gelagert werden. Im Urlaub ist dies oft ein Problem. Nicht alle Bakterien sind probiotisch. Nur gesundheitsfördernde Mikroorganismen wie Lactobakterien und Bifidobakterien dürfen diesen Titel tragen. In den unterschiedlichen Darmabschnitten spielen auch unterschiedliche Organismen eine schützende Rolle. Nicht selten gerät das Ökosystem des Darms zwar durch EINEN Keim ins Ungleichgewicht, die Folge kann aber eine krankhafte Vermehrung VIELER Keimarten sein. Deshalb ist es sinnvoller, zur Gesunderhaltung und zur Vorbeugung einer Reisediarrhoe solche Mittel zu bevorzugen, die nicht nur viele, sondern auch unterschiedliche Keime enthalten.
Prokinetika: Serotonin als Target
Der Neurotransmitter Serotonin spielt bei einer Vielzahl unterschiedlicher Erkrankungen eine Rolle. Seine chamäleonartige Funktion kann er deshalb wahrnehmen, weil er an einer Schar von Rezeptorsubtypen andockt. Seine Bedeutung für die Pathogenese von Darmerkrankungen wird klar, wenn man sich das Verteilungsmuster vom endogenen Serotonin anschaut: 95 % des Botenstoffs sind im Gstrointestinaltrakt vorhanden. In den enterochromaffinen Zellen der Darmmukosa ist der Serotoninspiegel besonders hoch. Besonders der 5 HT3-Rezeptor ist in den Neuronen der Darmwand überproportional vertreten. Wird die Bindungsstelle agonistisch angeregt, tritt als Effekt auf diesen Reiz eine Steigerung der gastrointestinalen Motilität und Sekretion auf. Über extrinsische Nervenfasern wird dieser Impuls ins ZNS als Empfindung weitergeleitet, wo es als Dehnungsreiz und Abdominalschmerz interpretiert wird.
Der Serotoninagonist Prucaloprid hat von der europäischen Kommission die Zulassung für die Behandlung der chronischen Obstipation bei Frauen, die mit Laxantien keinen ausreichenden Therapieerfolg erzielen, erhalten. Der 5-HT4-Rezeptoragonist ist kein Laxans! Im Gegensatz zu Abführmitteln löst das Prokinetikum im Dickdarm einen physiologischen peristaltischen Reflex aus. Dies beschleunigt die Darmpassage, fördert die Bewegung des Darminhalts im Dickdarm und verbessert signifikant dessen Entleerung. Die empfohlene Dosis beträgt einmal täglich 2 mg. Frauen über 65 Jahre sollten mit einer Dosis von einmal täglich 1 mg beginnen, die bei Bedarf auf einmal täglich 2 mg erhöht werden kann.
Vorerst Frauensache
In drei randomisierten placebokontrollierten Doppelblindstudien mit rund 1300 Patienten mit chronischer Verstopfung, 88 Prozent davon Frauen, wurde die Wirksamkeit bewiesen. Primärer Endpunkt für die Wirksamkeit war die Zahl der Patienten, bei denen über einen Zeitraum von drei Monaten hinweg mindestens dreimal pro Woche eine vollständige Darmentleerung ohne Gabe von Laxantien erfolgte. Sowohl 2 als auch 4 mg waren in allen drei Studien dem Placebo signifikant überlegen (26,6 Prozent 2 mg Prucaloprid versus 11,3 Prozent Placebo). Die 4-mg-Dosis zeigte keinen Vorteil gegenüber der 2-mg-Dosis. Die häufigsten unerwünschten Wirkungen waren Kopfschmerzen und gastrointestinale Beschwerden wie Bauchschmerzen, Übelkeit und Durchfall.
Wenn Darmmittel aufs Herz gehen
Der Wirkansatz ist nicht neu. Bereits Cisaprid zeigte vergleichbare Wirkungen, musste jedoch wegen fehlender Selektivität und der daraus resultierenden Herzrhythmusstörungen vom Markt genommen werden. Es blieb bis jetzt eine Lücke, die auch durch Metoclopramid nicht geschlossen werden konnte. Prucaloprid scheint selektiver zu wirken und keine kardiovaskulären Effekte aufzuweisen. Dennoch sollte der neue Arzneistoff bei Patientinnen, die eine Begleitbehandlung mit QTc-Intervall-verlängernden Arzneimitteln erhalten, mit Vorsicht angewendet werden.
Novartis hat in den USA den Verkauf des 5-HT4-Agonisten Tegaserod gestoppt, das seit Juli 2002 zur Behandlung des Reizdarmsyndroms zugelassen war. Auch eine Gabe zur Therapie der Obstipation unter Opiattherapie erschien hoffnungsvoll. Die FDA forderte eine Sicherheitsanalyse von 29 randomisierten kontrollierten Studien, die ein erhöhtes Risiko für schwere, lebensbedrohliche kardiovaskuläre Komplikationen gegenüber Placebo ergab. Die Ursache ist unklar. Es wird vermutet, dass der 5-HT4-Agonist einen Gefäßspasmus ausgelöst haben könnte.
Die aktuellen Studien zu Prucaloprid haben keine Hinweise auf kardiale Nebenwirkungen ergeben. In weiteren Studien soll Prucaloprid auch für die Behandlung der chronischen Obstipation bei Männern sowie bei opioid-induzierter Verstopfung getestet werden. Spezielle Studien beim obstipationsdominanten Reizdarmsyndrom liegen zu Prucaloprid allerdings nicht vor. Den gleichen Angriffspunkt wie Prucaloprid hat Velusetrag, das sich in der klinischen Prüfung befindet.
Wenig Alternativen
Andere Prokinetika wie Metoclopramid oder Domperidon greifen ausschließlich am oberen Gastrointestinaltrakt an und sind daher bei der Behandlung einer Obstipation nicht zielführend.Eine pflanzliche Alternative könnte das Phytopharmakon STW-5 sein, Hauptinhaltsstoff ist neben Schöllkraut die Bittere Schleifenblume (Iberis Amara) Die Mischung aus neun Pflanzenextrakten war in Studien zur Therapie des Reizdarmsyndroms auch in der Subgruppe der Patienten mit vorherrschender Obstipation wirksam.
Alosetron ist nur in den USA zugelassen und auch dort nicht unumstritten. In Deutschland erhältliche 5-HT3-Rezeptorantagonisten wie Ondansetron, Granisetron oder Tropisetron sind nur für die Behandlung von Übelkeit und Erbrechen in Zusammenhang mit einer Chemo- oder Strahlentherapie bzw. zur Prophylaxe von postoperativer Übelkeit und Erbrechen (PONV) zugelassen. Die Leitlinien betrachten den Einsatz ebenfalls skeptisch: „Aufgrund seltener, aber potenziell schwerwiegender Nebenwirkungen wie einer ischämischen Kolitis und einer schweren Obstipation sollten 5-HT3-Rezeptorantagonisten nur in therapierefraktären, schweren Einzelfällen mit gleichzeitig bestehender Diarrhö zum Einsatz kommen“.
Setrone vorerst nicht zugelassen
Nebenden den 5-HT4-Rezeptoren spielt auch der Subtyp 5-HT3 eine Rolle. Für 5-HT3-Rezeptorantagonisten wie Alosetron konnte in mehreren Studien bei Patienten mit diarrhödominantem Reizdarmsyndrom eine Verbesserung der damit verbundenen Schmerzen belegt werden.
Prostaglanin für Schweizer
Lubiproston ist ein Chloridkanal-Aktivator, der eine gesteigerte Wassersekretion in den Darm auslöst. In mehreren Studien hat die Substanz positive Effekte bei Reizdarmsyndrom vom Obstipationstyp und chronischer Obstipation gezeigt. Die Substanz ist bis jetzt nur in der Schweiz und den USA zugelassen. Lubiprostin besitzt prostaglandinartige Wirkunge und ist daher in der Schwangerschaft absolut kontraindiziert.
TZA und SSRI
Trizyklische Antidepressiva und Serotonin-Wiederaufnahmehemmer haben einen gesicherten analgetischen Effekt bei Reizdarmpatienten. Vermutlich ist dafür die komplexe Wirkung auf serotoninerge, opioide und adrenerge Nerven verantwortlich. Die verminderte Empfindung von Symptomen beruht wahrscheinlich auf einer Modulation der zentralen Reizverarbeitung und scheint unabhängig von einem psychotropen Effekt.
Wenn beispielsweise bei psychischer Begleiterkrankung oder Therapieversagen Antidepressiva bei der Therapie zum Einsatz kommen, sollten bei Patienten mit vorherrschender Obstipationsproblematik selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) bevorzugt werden, so die S-3-Leitlinien. Die Dosierung sollte in der Regel niedriger sein als bei der Depressionsbehandlung. Aufgrund der hohen Rate an Nebenwirkungen sollte bei der Verwendung von Antidepressiva eine genaue Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen.
Krampf lass nach: Spasmolytika
Spasmolytika wirken im Bereich der glatten Muskulatur des Magen-Darm-Trakts relaxierend und haben sich zur Schmerzreduktion bei Patienten mit Reizdarmsyndrom bewährt. In dieser Gruppe finden sich Butylscopolaminiumbromid und Mebeverin.