Nach dem Urteil zur Beschneidung von Jungen gab es hitzige Debatten. Auf der Strecke bleiben Betroffene: Beschneidungen wird es auch weiterhin geben, nur unter welchen Bedingungen? Auch Kollegen fehlt momentan jegliche Rechtssicherheit.
Showdown im Kölner Landgericht: Vor fast zwei Jahren hatte ein niedergelassener Allgemeinmediziner einen vierjährigen, islamischen Jungen ohne medizinische Indikation beschnitten – mit Einwilligung der Eltern. Die Staatsanwaltschaft erstattete Anzeige. Richter sprachen den Kollegen aufgrund der diffusen Rechtslage zwar vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung frei, stellten aber dennoch klar: „Im Rahmen einer vorzunehmenden Abwägung überwiegt das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit vorliegend die Grundrechte der Eltern.“ Religionsfreiheit und Erziehungsrecht der Eltern würden nicht unzumutbar beeinträchtigt, wenn sie gehalten seien, abzuwarten, ob sich das Kind später selbst für eine Beschneidung entscheidet.
Religionsgemeinschaften entsetzt
Daraufhin brach ein Sturm der Entrüstung über Deutschlands Justiz und Politik herein – sowohl jüdische als auch islamische Verbände kritisierten die Entscheidung mit Verweis auf das Grundgesetz. In Israel musste der deutsche Botschafter Schelte der Knesset über sich ergehen lassen, auch eine Protestnote des Simon Wiesenthal Center ist mittlerweile bei der Bundesregierung eingetroffen. „Sollte das Urteil Bestand haben, sehe ich für die Juden in Deutschland keine Zukunft“, resümierte Pinchas Goldschmidt, Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner. Vertreter des Islam reagierten ähnlich und bewerteten das Urteil als „Dummheit“ (Egemen Bağış, Europaminister der Türkei).
Kinderrechte stärken
Beschneidungsgegner sind momentan in der Minderheit. Terre des Femmes e.V. etwa spricht von einem „wegweisenden Urteil“ aus Köln. Mitglieder der Organisation stellen sich voll und ganz hinter die Entscheidung – weder durch Einwilligung von Eltern noch durch Religionsfreiheit werde eine Vorhautbeschneidung an Jungen gerechtfertigt. „Wir begrüßen dieses Urteil“, sagt Irmingard Schewe-Gerigk, Vorstandsvorsitzende des Vereins. Es zeige deutlich, dass die körperliche Unversehrtheit von Kindern nicht mit religiösen Argumenten verletzt werden dürfe. Psychiater wiederum argumentieren, Kinder nähmen eine Zirkumzision mitunter als aggressiven Angriff auf ihren Körper wahr, inklusive des Gefühls, „kastriert“ worden zu sein.
Kollegen in der Klemme
Aus Sicht von Ärzten ist das Urteil wenig erfreulich – in anderer Hinsicht. Für sie bleiben Unsicherheiten, wie bei Kindern jetzt vorzugehen ist, sollten deren Erziehungsberechtigte eine Beschneidung wünschen. Das Landgericht Köln hat besagten Kollegen zwar vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung freigesprochen. Sicherheit bietet diese Einzelfallentscheidung aber nicht – die Staatsanwaltschaft kann jederzeit erneut Anklage erheben. Deshalb rät Bundesärztekammer-Präsident Dr. Frank Ulrich Montgomery allen Kollegen, momentan bei Jungen keine Zirkumzisionen ohne medizinische Indikation durchzuführen. „Das Urteil des Kölner Landgerichts ist für die Ärzte unbefriedigend und für die betroffenen Kinder sogar gefährlich“, so Montgomery. Es bestehe nun die große Gefahr, dass Eingriffe von Laien vorgenommen würden – „und so allein schon wegen der oft unzureichenden hygienischen Umstände zu erheblichen Komplikationen“ führen. Falsche Techniken und fehlende Anästhesie leisten ein Übriges, um Jungen körperlichen beziehungsweise seelischen Schaden zuzufügen. Damit haben Kölner Richter trotz ihres ausdrücklichen Wunschs, das Wohl von Kindern zu vertreten, möglicherweise genau das Gegenteil erreicht.
Medizinischer Nutzen unumstritten
Völlig losgelöst von der kontroversen Debatte haben Beschneidungen selbst ohne medizinische Indikation zahlreiche Vorteile: Im amerikanischen und angelsächsischen Raum wünschen Patienten eine Zirkumzision allein schon aus hygienischen Gründen. Wie Studien außerdem zeigen, verringert sich das Risiko, an einem Prostatakarzinom zu erkranken. Forscher aus Seattle, Washington, werteten Daten von 1754 Männern mit einem Prostatakarzinom aus, dem gegenüber standen 1645 gesunde Geschlechtsgenossen. Dabei zeigte sich, dass Patienten, die vor ihrem ersten Geschlechtsverkehr beschnitten wurden, hierbei ein um 15 Prozent niedrigeres Risiko haben. Forscher vermuten, dass nach einer Zirkumzision Verhornungen entstehen, die zu einem gewissen Maße vor Infektionen schützt. Proliferative inflammatorische Atrophien nach bakteriellen oder viralen Infekten gelten als mögliche Vorstufen maligner Erkrankung. Auch das vergleichsweise seltene Peniskarzinom, pro Jahr erkranken rund 600 Männer um das 60. Lebensjahr, sind hier zu nennen: Laut der Deutschen Gesellschaft für Urologie entstehen diese Krebsform bei Beschnittenen deutlich seltener. Forscher fanden in Kulturen, die Beschneidungen im Kindesalter durchführen, niedrigere Inzidenzen. Das mag möglicherweise an der besseren Hygiene liegen, ganz sicher aber an der Entfernung von Bereichen, die besonders häufig von Peniskarzinomen betroffen sind.
Gib AIDS (k)eine Chance?
Weitere Argumente klingen zumindest aus deutscher Perspektive fragwürdig, haben aber in Ländern mit schlechter Versorgungslage ihre Berechtigung: Bereits 2007 rieten Vertreter der Weltgesundheitsorganisation WHO und des Joint United Nations Programme on HIV/AIDS (UNAIDS), Jungen generell zu beschneiden. Dieses „zusätzliches Mittel im Kampf gegen die Immunschwächekrankheit AIDS“ ersetzt keine Kondome, soll aber Übertragungsrate um bis zu 66 Prozent senken. Erbitterter Widerstand an flächendeckenden Beschneidungen kam von der Gruppierung „Genital Autonomy“. In den Jahren darauf haben auch wissenschaftliche Studien zu kontroversen Ergebnissen geführt, methodische Mängel inklusive. Einige Metaanalysen fanden relative Risiken von etwa 0,4. Darunter ist das Verhältnis von HIV-Infektionen bei beschnittenen im Verhältnis zu nicht beschnittenen heterosexuellen Männern bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr zu sehen.
Ein langer Weg
Doch zurück nach Deutschland: Die gesellschaftliche Diskussion beschränkt sich hier auf Aspekte rund um Glaubensfreiheit versus Einschränkung der körperlichen Unversehrtheit. Noch im Juli hatte der Bundestag mit ungewohnter Mehrheit aufgefordert, bis zum Herbst eine Resolution zur Legalisierung religiöse motivierter Beschneidungen zu erarbeiten. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hält ein Gesetz aber nicht für erforderlich. Mittlerweile macht sich Skepsis bemerkbar, und immer mehr Parlamentarier fordern, nicht nach Fraktionsdisziplin abstimmen zu müssen. Am 23. August muss sich erst einmal der Ethikrat mit dem Thema befassen. Selbst nach einer Gesetzesinitiative bliebe das Votum von Verfassungsrichtern abzuwarten.