Erst zu Mitte des letzten Jahrhunderts wandelte sich der Ruf des Selens von der toxischen Substanz zum wichtigen Spurenelement. Weil aber die Aufnahme über die Nahrung regional ganz unterschiedlich ist, sind auch Studien zur medizinischen Bedeutung nicht immer einfach zu deuten.
Schon seit langer Zeit Jahrhundert gilt das Halbmetall als wichtiges Element in der Krebsprävention. Wer im Periodensystem der Elemente sucht, findet es in der Reihe unter Sauerstoff und Schwefel. Selen gilt als essentielles Spurenelement und Antioxidans. Doch was ist dran an der der vermeintlichen Heilkraft von Selen? Helfen einige Selenkügelchen als Nahrungszusatzpräparate gegen Krebs und vielleicht noch viele andere Wehwehchen?
Geographie bestimmt über Zuviel oder Zuwenig
Wer jetzt klare Antworten erwartet, wird wohl am Ende des Artikels enttäuscht sein. Studien zum Thema Selen sind entweder keine vorhanden oder widersprechen scheinbar. Im Moment kommt auf die Frage nach dem Nutzen von der Wissenschaft ein deutliches „Das kommt darauf an.“ Denn allein schon von der Geographie hängt es ab, ob ein Selenmangel ohne gezielte Versorgung zu gesundheitlichen Problemen führt oder ob konzentrierte Präparate dazu beitragen, die Grenze zu toxischen Effekten zu überschreiten.
Deutschland liegt bei der Versorgung mit Selen eher im unteren Bereich mit rund 30 bis 40µg Selenzufuhr pro Tag. In den USA liegt dieser Wert bei 90 bis 130µg. Dennoch sind die bisher ermittelten Angaben zu Plasma- und Serumwerten auch bei uns noch weit über der bedenklichen Untergrenze und liegen im allgemeinen zwischen 50 und 120µg/l. In früheren Studien wurden Selenkonzentrationen auch noch oft in Nägeln und Haaren gemessen. Diese Methode gilt heute als ungenau und liefert keine konstanten Werte.
Deiodasen und Peroxidasen
Im Stoffwechsel verwertet der Körper das Element in rund 25 selenhaltigen Proteinen. Ein eigenes Codon (UGA) bestimmt unter bestimmten äußeren Bedingungen den Einbau von Selenocystein in die Peptidkette. Unter den Selenoproteinen sind bisher Glutathion-Peroxidasen und Deiodasen recht gut untersucht. Die Peroxidase beseitigt H202, indem es Glutathion oxidiert. Das gleiche Prinzip gilt für Lipidperoxide, aus denen die entsprechenden Alkohole entstehen. Die analoge Reaktion katalysiert das Enzym bei Phospholipid- und Cholesterol-Hydroperoxiden. Die höchste Konzentration an Selenoproteinen sammelt die Schilddrüse an. Dort spielen Iodthyronin-Deiodasen eine große Rolle. Sie aktivieren T4 zum biologisch aktiven Schilddrüsenhormon T3. Vor allem im zentralen Nervensystem und der Haut baut eine andere Deiodase Thyroxin und T3 ab. SEPP1 ist nicht die Erfindung eines bayrischen Biochemikers, sondern steht für Selenoprotein P1. Zehn Selenocystein-Reste sorgen für den Transport des seltenen Elements von der Leber durch den Körper zu Gehirn, Hoden, Niere und weiteren Organen.
Haarausfall bei Selenose
Drei prospektive Studien deuten auf eine verringerte Sterblichkeit bei höheren Selenspiegeln hin. Das gilt jedoch nur für einen Konzentrationen bis zu 140 µg/l . Sind die Glutathionperoxidasen gesättigt, speichert der Körper Selen. Ist das unbedenklich? Bisherige Studien geben darauf noch keine eindeutige Antwort. Toxisch hohe Konzentrationen äußern in der Atemluft und im Schweiß, der einen knoblauchähnlichen Geruch annimmt und für den Dimethylselenid verantwortlich ist. Magen-Darm-Beschwerden, Verlust von Nägeln und Haaren und Erschöpfung treten bei Menschen auf, die regelmäßig mehr als einem Milligramm Selen zu sich nehmen. Eine große Studie (SELECT = Selenium and Vitamin E Cancer Trial) deutet auf ein erhöhtes Diabetes-Risiko hin, wenn Selensupplemente ohne indizierten Mangel die Aufnahmemöglichkeiten der Depots im Körper übersteigen.
Mit recht unspezifischen Zeichen zeigt der Körper an, dass es ihm an Selen mangelt: Müdigkeit, Haarausfall, zuweilen auch Leberfunktionsstörungen oder Infertilität. Die Keshankrankheit, eine Kardiomyopathie, tritt besonders in Selen-Mangel-Gebieten auf, wenn die Versorgung 10µg/Tag unterschreitet. Wer nicht an einem genetisch bedingten Enzymdefekt der Selenoproteine leidet, sollte jedoch bei ausgewogener Ernährung keine Probleme mit seinem Selenspiegel haben. Während Milch kaum zur Versorgung beiträgt, sind Fleisch, Eier, Fische und Getreideprodukte recht gute Lieferanten. Regional variiert der Anteil beträchtlich. Ursache ist der natürliche Selengehalt des Bodens, aber auch der Einsatz von selenhaltigem Dünger und Futtermitteln. Wer konzentriertes Selen aus der Natur zu sich nehmen möchte, sollte zu Paranüssen greifen. Eine Nuss enthält durchschnittlich 25 µg des Elements.
Vorzeitiger Studienabbruch nach negativen Ergebnissen
Zahlreiche Studien haben untersucht, ob Selen zur Prävention von Krebs und Herz-Kreislaufkrankheiten taugt. So beschrieb kürzlich eine Metastudie in PLoS One den Einfluss von selenhaltigen Nahrungsmittel-Zusätzen auf das Risiko für Lungenkrebs. Nach Auswertung der Studien mit unterschiedlichen Ergebnissen kommen die kanadischen Autoren um Heidi Fritz zu dem Schluss, dass zusätzliches Selen bei niedrigen Spiegeln das Krebsrisiko senken könne. Höhere Spiegel von mehr als 120 µg/l seien ohnehin schon mit einer erhöhten Krankheitswahrscheinlichkeit belastet. Eine generelle Empfehlung für die zusätzliche Selengabe ließe sich daraus nicht ableiten.
Weil zusätzliche Gaben das Risiko für Prostatakrebs nicht senken, wurde die SELECT-Studie mit mehr als 35.000 Teilnehmern sogar vorzeitig abgebrochen. Bei der Behandlung von Plattenepithelkarzinom bei Kopf- und Halstumoren sorgten bei anderen Untersuchungen zusätzliche Selenit-Gaben mit 200 µg/Tag für eine signifikant verbesserte Immunabwehr gegen den Tumor. Aber auch bei sonst gesunden Senioren kann das Halbmetall das Immunsystem stimulieren: Selenverbindungen fördern die Proliferation aktivierter T-Zellen und zytotoxischer NK-Zellen.
Selen verhilft zur Vaterschaft
Selen liefert einen wichtigen Beitrag zu Prostaglandinsynthese. Lipid-Peroxide behindern die Bildung von Prostazyklin und führen zu einem Anstieg an Thromboxan. Die vasoaktive Verbindung lässt wiederum den Blutdruck ansteigen und sorgt für Kreislaufprobleme. Wenn die normalen Selenspiegel ausreichend hoch sind, so zeigen die Ergebnisse einer amerikanischen Präventionsstudie von 2006, ist eine weitere Selenzufuhr nicht notwendig und kann das Risiko für Herzkreislauf-Erkrankungen nicht weiter absenken.
Bei niedrigen Selenspiegel kann Selen allerdings nicht nur dem Immunsystem helfen, sondern fördert auch die Spermienreifung. Dabei spielen Glutathion-Peroxidasen und SEPP1 eine große Rolle. Die Behandlung machte in einer randomisierten Studie im Vergleich zur Placebogruppe nach vorherigen vergeblichen Versuchen 11 Prozent der Männer zu glücklichen Vätern.
Der Grat zwischen Selenmangel und einer Überdosierung schein beim Spurenelement Selen jedenfalls nicht allzu breit zu sein. Wer nicht in einem Mangelgebiet lebt, kommt mit gemischter Ernährung leicht auf die empfohlene Tagesdosis von 55µg. Strenge Vegetarier (Veganer) sollten dabei aber ihren Selenspiegel im Blick behalten. Zuviel Selen scheint aber eher zu schaden als zu nützen.