Bald feiern DMPs ihren zehnten Geburtstag. Das DMP Diabetes mellitus Typ 2 hat Teilerfolge zu verzeichnen - jedoch sind längst nicht alle Ziele erreicht. Daher sollen strukturierte Behandlungsprogramme anhand von neuen Leitlinien überdacht werden.
Alles begann mit dem Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs und dem Wunsch, sowohl Über- als auch Unterversorgung bei Diabetikern anzugehen, sprich Ressourcen optimal zu nutzen. Waren Patienten anfangs nicht wirklich überzeugt, nimmt heute jeder zweite aller sechs Millionen Betroffenen an einem strukturierten Behandlungsprogramm teil. Dahinter stecken letztlich mehrere Ideen: Diabetiker sollen durch individuelle Schulung ihre Krankheit möglichst gut selbst in die Hand nehmen. Andererseits wird versucht, Reibungsverluste zwischen Hausärzten, Diabetologen beziehungsweise Kliniken mit Diabetes-Schwerpunkt zu minimieren und auf Basis von Leitlinien optimal zu therapieren, damit Menschen mit geringem Risiko nicht zu Hochrisikopatienten werden. Hat das Disease-Management-Programm Diabetes mellitus Typ 2 (DMP T2DM) diese hehren Ziele erreicht?
Gut versorgt…
Kollegen des Klinikums Heidelberg veröffentlichten kürzlich ihren Abschlussbericht zur ELSID-Studie („Evaluation of a Large Scale Implementation of Disease Management Programs for Patients with Type 2 Diabetes“). In das Papier flossen sowohl Ergebnisse einer Patientenbefragung als auch medizinische und gesundheitsökonomische Parameter ein. Gut zu wissen: Diabetiker, die an DMPs teilnahmen, lebten im Schnitt tatsächlich länger. Hier sahen die Autoren einen Zusammenhang mit individuellen Therapiezielen, Patientenschulungen sowie häufigeren Untersuchungen. Wie Evert Jan van Lente vom AOK-Bundesverband auf dem Diabetes-Kongresses 2012 berichtete, sank bei AOK-Versicherten der systolische Blutdruck von durchschnittlich 142,3 mmHg bei DMP-Start auf 136,2 mmHg nach 6,5 Jahren. Der diastolische Wert verringerte sich von 81,4 auf 78,1 mmHg. In Summe hatten zu Beginn nur 35 Prozent aller Diabetiker Blutdruckwerte im Normbereich, nach über acht Jahren waren es über 50 Prozent. Auch orientierten sich Arzneimittel-Verordnungen stärker an evidenzbasierten Kriterien als bei der Vergleichsgruppe. Speziell bei multimorbiden Patienten verbesserte sich die Lebensqualität signifikant. Teilnehmer wiederum waren mit der ärztlichen Versorgung weitaus zufriedener als Patienten der Kontrollgruppe – entscheidend für eine hohe Therapietreue. Auch ökonomisch fanden die Autoren einen Mehrwert: In Summe zahlten Leistungsträger weniger als bei der Regelversorgung.
…oder nur Teilziele erreicht?
Nicht alle Versorgungsforscher teilen diese positive Bewertung: Eine Erhebung des IGES-Instituts kommt zu dem Ergebnis, dass bereits 1989 formulierten Ziele der St. Vincent-Deklaration zur Diabetesfürsorge und -forschung in Europa immer noch nicht vollständig erreicht wurden. Diabetesbedingte Erblindungen haben sich durch DMPs zwar um mehr als ein Drittel verringert. Allerdings zeigte sich kein Nutzen strukturierter Versorgungsprogramme bei Niereninsuffizienzen, obwohl Teilnehmer häufiger untersucht wurden.
Eine weitere Studie ging der Frage nach, inwieweit Versicherte der Techniker Krankenkasse von DMPs profitieren. Bei Komorbiditäten sah es schlecht aus – signifikante Unterschiede zur Kontrollgruppe gab es nicht. Zwar wurden Teilnehmer an entsprechenden Programmen engmaschiger untersucht, sie erhielten auch mehr Arzneimittelverordnungen. Letztlich zeigten sich positive Effekte aber nur an der niedrigeren Zahl medizinischer Notfälle beziehungsweise Klinikeinweisungen, was den Autoren vom Wissenschaftlichen Institut der Techniker Krankenkasse für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG) zu wenig ist. Ihr Fazit: „Das DMP T2DM ist in der momentan in Deutschland praktizierten Form nicht ausreichend effektiv“, der medizinische Nutzen sei nicht klar erkennbar.
Studien ohne Bias?
Unter Experten gelten manche Arbeiten jedoch als problematisch. Professor Dr. Peter T. Sawicki, Universitätsklinik Köln und ehemaliger Chef des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), stellt fest: „Weil sich die Patienten, die in ein DMP aufgenommen werden, von denjenigen, die aus welchen Gründen auch immer nicht daran teilnehmen, allein schon aufgrund der gesetzlichen Vorgaben unterscheiden müssen, kann eine Evaluation der DMP-Effekte zuverlässig nur in einer prospektiven, randomisierten, kontrollierten Studie erfolgen.“ Leider war das mit Einführung von DMPs nicht realisierbar. Um einen vermeintlichen „sponsor bias“ dennoch zu verringern, rät Sawicki, dass Evaluationen zeitgleich von Kassen, denen ein „positives“ beziehungsweise „negatives“ Resultat gelegen käme, gemeinsam mit einer unabhängigen Institution durchgeführt werden sollten.
Schwachstellen identifiziert
Für Evert Jan van Lente haben trotz aller Kontroversen DMPs auch in Zukunft ihre Berechtigung. Verbesserungspotenziale sieht er hinsichtlich der Zusammenarbeit von Gesundheitsberufen und bei der Umsetzung empfohlener Maßnahmen. „Fachleute haben zu Recht darauf hingewiesen, dass immer noch nicht alle behandelnden Ärzte die HbA1c-Werte ihrer DMP-Diabetiker bei jedem Besuch prüfen.“ Dr. Rainer Hess vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) möchte das Augenmerk stärker auf Komorbiditäten richten. Dazu gehören bei Diabetes etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen, offene Füße, Adipositas oder psychosomatische Störungen.
G-BA am Ruder
Auch organisatorisch wird sich einiges ändern: Im Zuge des Versorgungsstrukturgesetzes hat das Bundesministerium für Gesundheit seine Richtlinienkompetenz an den G-BA delegiert. Als beratendes Organ wiederum steht das IQWiG parat: Ein Anfang 2012 veröffentlichter Bericht zeigt keine gravierenden Mängel beim DMP T2DM, bringt aber dennoch neue Aspekte in die Diskussion. Vom Institut wurden dazu 35 nationale und internationale Leitlinien ausgewertet. Basierend auf den Daten empfehlen Wissenschaftler weitere Medikamente wie Opiate, topisches Isosorbiddinitrat und topisches Capsaicin bei Neuropathien. Auch sollte zur Vorbeugung und Behandlung des diabetischen Fußsyndroms der Gefäßstatus über den Knöchel-Arm-Index regelmäßig überprüft werden. Empfehlungen zu Blutfett- und Blutdruckzielwerten wären ebenfalls zu aktualisieren, inklusive Medikation. Bei Nephropathien merken die Versorgungsforscher an, hier seien klare Kriterien notwendig, wann Patienten zum Facharzt müssten beziehungsweise wann eine chronische Niereninsuffizienz zu diagnostizieren sei. Basierend auf diesen Empfehlungen entscheidet letztlich der G-BA, inwieweit DMPs angepasst werden oder nicht. Mit einer Richtlinie ist im Laufe dieses Jahres zu rechnen, bleiben noch ökonomische Punkte zu klären.
Finanzielle Anreize schwinden
Mittlerweile hat sich die Kostenpauschale für DMP-Patienten schrittweise von 180 auf 153 Euro verringert. Uwe Deh, geschäftsführender Vorstand des AOK-Bundesverbands, forderte deshalb, finanzielle Anreize müssten weiterhin so gesetzt werden, dass Kassen für eine bessere ärztliche Betreuung der Patienten auch ausreichende Mittel aus dem Gesundheitsfonds erhielten.