Wenn die zelluläre Müllabfuhr nicht mehr richtig arbeitet, kann Krebs entstehen. Mit maßgeschneiderten siRNAs konnten Forscher der Universität Erlangen Dickdarmtumore praktisch im Abfall ersticken lassen, ohne gesundes Gewebe zu beeinträchtigen.
„Sie haben Darmkrebs!“ Mit dieser Diagnose wurden nach den Angaben des Robert Koch-Institutes im Jahr 2008 rund 65.000 Menschen in Deutschland konfrontiert. Nach Mamma- und Prostatakarzinomen sind Karzinome des Magen-Darm-Trakts die zweithäufigste Krebsneuerkrankung und auch die zweithäufigste Krebstodesursache in Deutschland. Kolorektale Karzinome machen dabei den Löwenanteil aller Darmkrebsarten aus. APC: Müllabfuhr für β-Catenin In den meisten Dickdarmtumoren ist ein Gen namens Adenomatous-polyposis-coli (APC) mutiert. APC kommt in allen Wirbeltieren vor und codiert für ein Tumorsuppressorprotein. In einem bestimmten Signalweg namens Wnt spielt das APC-Protein eine wichtige Rolle: Im Normalfall ist das APC-Protein Bestandteil eines zellulären Entsorgungskomplexes, der das Protein β-Catenin abbaut. Wie fast immer bei biochemischen Prozessen wird es jetzt ein bisschen kompliziert. Eine sehr wichtige Funktion des β-Catenins ist die Signalübertragung im Wnt-Stoffwechselweg. Dabei wird es in den Zellkern transportiert und hilft dort einem Transkriptionsfaktor beim Ablesen weiterer Gene. Treten im APC-Gen Mutationen auf, ist der β-Catenin-Entsorgungskomplex defekt. Dann kann β-Catenin nicht mehr in ausreichendem Maße abgebaut werden und überflutet den Zellkern. Dort binden die zahllosen β-Catenin-Moleküle dann an weitere Proteine – mit fatalen Folgen: Die Zellen teilen sich unkontrolliert, es entstehen Krebszellen. Die Dosis muss stimmen Die Mutationen im APC-Gen führen allerdings nicht zu einem Totalausfall des APC-Proteins, sondern lediglich zu verkürzten APC-Proteinen, die immer noch über einige β-Catenin-Bindungsstellen verfügen. Diese verkürzten APC-Proteine sind praktisch in jedem Dickdarmtumor zu finden. „Es ist erstaunlich, dass sich der Tumor nicht einfach des gesamten APC-Proteins entledigt. Offenbar braucht er eine Rest-Hemmung des β-Catenins, um weiter wachsen zu können“, erklärt Prof. Dr. Jürgen Behrens vom Nikolaus-Fiebiger-Zentrum für Molekulare Medizin der Universität Erlangen, warum völlig ungebremstes β-Catenin quasi den Selbstmord eines Dickdarmtumors bedeuten würde. Den Grund dafür kennen die Wissenschaftler noch nicht. „Sowohl zu viele der verkürzten APC-Proteine als auch zu wenige davon sind schlecht für das Tumorwachstum. Letzteres haben wir uns zunutze gemacht“, so Prof. Behrens. Zusammen mit seinem Team konnte er das Wachstum von Dickdarmkrebszellen in Mäusen durch die Anwendung von speziellen siRNAs (si steht für small interfering) gegen das verkürzte APC-Gen hemmen. Das kann eine Chemotherapie auch, denken Sie? Richtig, aber die hochspezifischen siRNAs stoppen ausschließlich das Wachstum der Darmkrebszellen, ohne die gesunden APC-Proteine zu beeinflussen. siRNAs bergen großes Potential Vor etwa 14 Jahren publizierten die US-amerikanischen Wissenschafter Andrew Z. Fire und Craig C. Mello den Mechanismus der RNA-Interferenz, den sie im Fadenwurm C. elegans studiert hatten. Im Jahr 2006 erhielten sie dafür den Nobelpreis für Medizin. Die RNA-Interferenz ist ein natürlich vorkommender Mechanismus zur Genstilllegung. Dazu werden in der Zelle größere doppelsträngige RNA-Moleküle (dsRNAs) mit Hilfe bestimmter Enzyme in kurze doppelsträngige RNA-Fragmente geschnitten. Anschließend werden diese Fragmente in Einzelstränge, die sog. siRNAs, gespalten. Eingebettet in einen Enzymkomplex aktiviert die siRNA nun die sie umgebenden Enzyme, eine mRNA zu spalten, die in ihrer Basensequenz komplementär zur Sequenz der siRNA ist. siRNAs verhindern also die Translation - die Umschreibung - eines Gens in ein Protein. Diese Umschreibung gezielt zu steuern birgt großes pharmakologisches Potential, denn der Mechanismus der RNA-Interferenz funktioniert in fast allen Eukaryoten und scheint ein hoch konservierter Vorgang zu sein. Doch zurück zum Dickdarmkrebs. „Theoretisch könnte man bei Patienten mit Dickdarmkrebs die individuelle Mutation im APC-Gen bestimmen und maßgeschneiderte siRNAs herstellen“, so Prof. Behrens. In vitro und im Nacktmausmodell ist das den Wissenschaftlern bereits gelungen. „Diese Versuche auf menschliche Patienten mit Dickdarmkrebs zu übertragen, ist jedoch nicht ganz einfach. Chemisch synthetisierte siRNAs in vivo effizient zum betreffenden Organ zu transportieren ist pharmakologisch eine große Herausforderung“, fährt er fort. Doch auf den großen Durchbruch der personalisierten Medizin durch die RNA Interferenz zu warten, ist auch gar nicht das Anliegen von Prof. Behrens Arbeitsgruppe. „Das entscheidende unserer Arbeit ist, dass wir zum Stopp des Tumorwachstums auch die Produktion des β-Catenins überstimulieren können, anstatt es ganz auszuschalten“, resümiert Prof. Behrens. „Ob das nun mit der RNA-Interferenz gelingt, ist ungewiss. Aber es ist ein neuer pharmakologischer Ansatz, um das Tumorwachstum bei Dickdarmkarzinomen zu verlangsamen oder gar zu stoppen.“