Extraktionen gelten als Ultima Ratio, sollten keine Möglichkeiten mehr bestehen, einen Zahn zu retten. Jetzt erhellen Studien die Hintergründe: Patienten sind zwar von Angeboten zur Karies-Prophylaxe überzeugt, aber Parodontitis wird immer mehr zum Problem.
Schwere Parodontitis oder stark kariöse Zerstörungen der Substanz – in manchen Fällen haben Kollegen keine andere Wahl, als Zähne zu entfernen. Weitere Gründe sind prothetische oder orthopädische Maßnahmen. Aber auch die Weisheitszähne stehen auf der Abschussliste: Obwohl gesund, ist der Durchbruch oft erschwert oder aber sie verdrängen andere Zähne. Als Folge traumatischer Ereignisse müssen Zahnärzte ebenfalls zur Zange greifen – meist bei Kindern beziehungsweise Sportbegeisterten.
Wie die Barmer GEK mit ihrem aktuellen Zahnreport zeigen konnte, bestehen bei Extraktionen je nach Bundesland Unterschiede, wenn auch nicht allzu deutlich: Sachsen und Thüringen waren an der Spitze – bei 10,6 Prozent aller Patienten mussten Zähne entfernt werden. Deutlich niedriger lagen die Werte in Hamburg (8,2 Prozent) und Baden-Württemberg (8,5 Prozent). Aus Sicht der Barmer GEK gehören Extraktionen dabei zur „Top Ten“ aller Behandlungen. Hintergründe zu den Zahlen kommen vom Institut der deutschen Zahnärzte (IDZ): Im Rahmen einer Stichprobe wurden 599 Zahnärzte befragt. Während eines Monats haben diese insgesamt 12.517 Zähne extrahiert, 90 Prozent waren Bestandteile des bleibenden Gebisses und zehn Prozent Milchzähne. Im Schnitt machte das pro Kollege 20,9 Zähne, entsprechend 1,5 Zähnen pro Patient. Von der Wiege bis zur Bahre Statistisch gesehen häufen sich Zahnextraktionen zwischen dem fünften und 15. Lebensjahr – hier stecken vor allem kieferorthopädische Gründe dahinter (31,3 Prozent), gefolgt von Karies (27,0 Prozent) und Eingriffen zur Entfernung fehlgestellter Weisheitszähne (10,7 Prozent). Ab Anfang 30 setzt bei den zweiten Zähnen altersbedingte Karies ein, langsam, aber dennoch stetig, um zwischen 66 und 70 schließlich das Maximum zu erreichen. Mit hinzu kommt ab dem 40. Lebensjahr dann Parodontitis. Dabei blieben im Oberkiefer an erster Stelle die Weisheitszähne auf der Strecke, gefolgt von den zweiten und ersten Molaren. Im Unterkiefer waren Eckzähne besonders stabil. Traumata führen ebenfalls häufig zum Zahnverlust, betroffen sind vor allem die Eckzähne sowie die mittleren und seitlichen Schneidezähne – diese wurden weitaus häufiger in der Folge eines Unfalls extrahiert als durch Karies- beziehungsweise Parodontose-Folgen. Kariesprophylaxe mit Erfolg Kein Wunder: Als häufigste Ursachen fanden Forscher vor allem Karies (29,7 Prozent). Ein vermeidbares Übel – Kollegen kritisieren, dass nach wie vor zu wenige Patienten Prophylaxe-Leistungen in Anspruch nehmen. Bei der Frühvorsorge führt Bayern, 37,4 Prozent der Vorschulkinder wagten mit ihren Eltern den Gang zum Zahnarzt. Schlusslicht ist das Saarland mit mageren 23,9 Prozent. Bundesweit gemittelt heißt das trotz aller Euphorie, nur jedes dritte Kind im entsprechenden Altersbereich wurde untersucht. „Schäden am Milchgebiss können später Schäden der bleibenden Zähne zur Folge haben“, gibt Professor Dr. Thomas Schäfer vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung, Hannover, zu bedenken. Doch mit zunehmendem Lebensalter bessert sich auch die Quote: Zwischen 78,5 (Thüringen) und 60,9 Prozent (Saarland) aller Schulkinder lassen ihr Gebiss unter die Lupe nehmen, im bundesweiten Schnitt sind es zwei Drittel der Heranwachsenden. Das macht Sinn: Die „Zahnfäule“ wurde über längere Zeiträume gemittelt deutlich seltener – zweifelsohne als Erfolg entsprechender Kampagnen zu bewerten, der auch bezahlt werden muss. Und so stiegen laut Barmer GEK Kosten für die Individualprophylaxe von 301,5 Millionen Euro im Jahr 2000 auf mittlerweile 386,4 Millionen Euro. Gerade bei Karies offenbaren Durchschnittswerte in Statistiken aber auch ihre schwache Seite: In der Praxis stehen Patienten mit guter bis exzellenter Zahngesundheit Fällen gegenüber, bei denen sich kariöse Defekte häufen. Parodontitis: Vorsicht bei Vorerkrankungen Zwar hat Karies viel von der früheren Bedeutung beim Zahnverlust verloren, ab dem 40. Geburtstag steigt jedoch die Parodontitis-Prävalenz – 28,5 Prozent aller Extraktionen sind darauf zurückzuführen. Dahinter stecken teils organische Vorerkrankungen: Bei Diabetes etwa berichten Zahnärzte bis zu 15 Mal häufiger vom Zahnverlust durch Paradonthopathien. Hinzu kommen rheumatoide Erkrankungen, sprich chronische Entzündungsprozesse mit zahnmedizinisch schlechter Prognose. Spezielle Spondylitis ankylosans, besser bekannt als Morbus Bechterew, führt zu einem sieben Mal höheren Risiko, Zähne zu verlieren. Auch ein geschwächtes Immunsystem bei HIV-Infektionen oder brüchige Knochen bei Osteoporose leisten ihren Beitrag. Hingegen wird Vitaminmangel als Ursache heute nur noch selten beobachtet, während ganz andere Laster weitaus schlimmere Folgen haben: Glimmstängel schädigen das Zahnfleisch ebenfalls, und „Raucher haben ein rund doppelt so hohes Risiko für Zahnausfall wie Nichtraucher“, sagt Professor Dr. Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer. Soziodemographische Einflüsse Daneben fanden IDZ-Forscher Zusammenhänge mit dem Sozialstatus: Vollständige Zahnlosigkeit kam bei gut Situierten nur in 5,6 Prozent der Fälle vor – im Vergleich zu 28,1 Prozent bei schlechter gestellten Bürgern – eine Tendenz, die Arbeiten aus anderen Ländern durchaus bestätigen. Speziell Kinder von Migranten sollen deshalb noch stärker in den Mittelpunkt der Öffentlichkeitsarbeit gestellt werden, etwa durch Informationsangebote direkt in Schulen sowie durch muttersprachliche Medien für ihre Eltern. Hingegen erstaunt, dass Bewohner ländlicher Regionen im Alter noch fast doppelt so viele Zähne haben wie in der Stadt, nämlich 11,28 im Vergleich zu 5,74. Ein Erklärungsversuch: Obwohl die Zahnarztdichte auf dem Land um rund 24 Prozent geringer ist als in Ballungszentren, nehmen Bewohner dörflicher Regionen diesen Service deutlich häufiger in Anspruch. Bei Frauen wiederum müssen Kollegen generell weniger Zähne ziehen als bei Männern: Für Karies lag laut IDZ das Verhältnis bei 28,5 zu 31,4 Prozent, und Parodontitis war bei 32,5 Prozent der Patientinnen im Vergleich zu 33,2 Prozent der Patienten Todesurteil für einen Zahn. Als Ursache sehen Wissenschaftler immer noch die Scheu vieler Männer, Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch zu nehmen: Zwischen den 20. und 44. Lebensjahr war die Rate bei Frauen im Schnitt 13 Prozent höher. Eltern stärker motivieren Viele Daten, eine Strategie: Auch in Zukunft rühren Zahnärzte die Werbetrommel für Prophylaxe. „Wir werden gemeinsam mit den Kinderärzten die Eltern noch stärker motivieren, die Früherkennungsuntersuchungen beim Zahnarzt in Anspruch zu nehmen. Besonders wichtig sind uns auch Kinder mit Migrationshintergrund“, so das Fazit von Dr. Janusz Rat, Kassenzahnärztliche Vereinigung Bayerns. Kein anderes Konzept kann nachhaltiger Zähne vor der Zange retten.