Sie beruhigt, sie bewegt, sie dringt bis in das Gehirn vor – Musik. Es ist also nicht verwunderlich, dass immer mehr Wissenschaftler Musik erfolgreich in der Therapie bei diversen Erkrankungen einsetzten.
Der eine weint bei Beethoven, der andere bei Bon Jovi, aber fast jeder läuft auf die Tanzfläche wenn Queen gespielt wird. Musik berührt die Menschen. Läuft das aktuelle Lieblingslied im Radio, ist die Welt für fünf Minuten in Ordnung. Musik hat einen direkten Zugang zu Emotionen, sie ist fester Bestandteil der Menschheitsgeschichte. Alle Menschen haben dieses Gespür für Musik, wenn man von ein paar wenigen mit seltenen neurologischen Erkrankungen absieht. Wer selbst Musik kreiert, kann das Gehirn sogar verändern. Bei Profimusikern kann man dies auf Hirnscans erkennen: Der Balken, der beide Hirnhälften miteinander verbindet, ist bei ihnen deutlich dicker. Am deutlichsten fällt der Unterschied aus, wenn sie schon als kleine Kinder ein Instrument gelernt haben.
Evidenz: Musik kann heilen helfen
Diesen Einfluss von Musik machen sich seit einiger Zeit auch Ärzte zunutze. Denn es gibt immer mehr Evidenz dafür, dass Musik auch heilen helfen kann. Systematische Übersichtsarbeiten aus der letzten Zeit zeigen, dass Menschen mit ganz verschiedenen Krankheiten davon profitieren könnten, Musik zu hören, selbst zu singen oder zu spielen. Zu den Leiden gehörten Autismus, Depressionen, Schizophrenie, Hirnverletzungen und eine ganz Reihe anderer Erkrankungen. Allein für Krebs wurden kürzlich 30 Studien mit über 2.000 Probanden untersucht. Bei einigen ging es darum, Musik zu machen, bei anderen reichte es zuzuhören. In beiden Fällen lautete das Fazit: Musik kann wahrscheinlich Angst, Stimmung, Schmerz oder Lebensqualität verbessern.
Erfolge kann die Musiktherapie wahrscheinlich auch bei psychischen Erkrankungen erzielen – zumindest in der richtigen Dosis. In einem Review schauten sich Wissenschaftler um Christian Gold vom Grieg Academy Music Therapy Research Centre in Bergen fünfzehn Studien mit insgesamt über 300 Patienten an. Rund zwei Drittel litt an Psychosen, ein Drittel war depressiv. Während der Musiktherapie haben die Patienten selbst Instrumente gespielt, gesungen, improvisiert, Songtexte geschrieben und über deren Inhalt reflektiert. Die Autoren der Studie stellten heraus, dass die Musiktherapie einen starken und signifikanten Effekt auf generelle Symptome wie Depressionen, Angst oder Engagement haben kann, wenn sie regelmäßig angewendet wird. Zwischen 16 und 40 Therapiestunden sollten es schon sein, folgern die Autoren aus der Studie.
Irische Tanzweise im OP
Andere Studien lassen vermuten, dass Autisten mit Hilfe der Musik kommunikativer werden können. Alzheimer-Patienten soll gemeinsames Singen helfen, ihre Aggressionen abzubauen, Erinnerungen zurückzuholen und einen emotionalen Halt zu entwickeln. Wie Menschen auf Musik reagieren, hängt auch von der Melodie ab. So hat der deutsche Neurowissenschaftler Stefan Koelsch vor und während einer Operation an Patienten fröhliche Musikstücke wie zum Beispiel das "Allegro" aus Bachs Viertem Brandenburgischem Konzert vorgespielt oder eine irische Tanzweise. Die Musik beruhigte seine Patienten, die Konzentration des Stresshormons Cortisol sank und sie benötigten weniger von dem Narkosemittel Propofol.
Eine ganz andere Art der Musiktherapie wird in letzter Zeit bei Tinnitus-Patienten getestet. Die Arbeitsgruppe von Christo Pantev an der Universität Münster etwa beschallte ein Jahr lang jeden Tag acht Probanden für ein bis zwei Stunden mit deren jeweiliger Lieblingsmusik. Zuvor hatten sie jedoch den Frequenzbereich rund um den Tinnituston herausgefiltert. Denn aufgrund des Hörschadens können die Patienten eine bestimmte Schallfrequenz nicht mehr wahrnehmen. Das Problem dabei ist, dass sie diesen Fehlton immer dann zu hören glaubten, wenn das Gehirn benachbarte Frequenzen verarbeitet. Die Musiktherapie sollte helfen, die Fehlschaltung in der Hörrinde des Gehirns wieder rückgängig zu machen. Die ersten Ergebnisse stimmten die Forscher hoffnungsvoll, den Tinnituston zumindest abzuschwächen.
Tinnitus: Ähnlichen Klang erzeugt
In einem dreijährigen Forschungsprojekt an der Universität Münster wird das Verfahren nun weiter entwickelt. Das Viktor Dulger Forschungsinstitut am Deutschen Zentrum für Musiktherapieforschung e.V. in Heidelberg hat eine ähnliche Therapieform entwickelt. Mittels eines Synthesizers stellten die Wissenschaftler einen dem eigenen Tinnitus ähnlichen Klang nach, der den Patienten dann vorgespielt wurde. Durch die persönliche Tonabfolge sollen sich die überaktivierten Nervenzellen beruhigen lassen und ungünstige Verknüpfungen zwischen Neuronen wieder auflösen. Weitere Versuche müssen nun zeigen, ob die Methoden den Kriterien der evidenzbasierten Medizin genügen und Patienten wirklich dauerhaft davon profitieren können.