Auch Ärzte mit guten Anatomiekenntnissen tun sich schwer, exakt zu operieren. Computertechnik jedoch kann diagnostische Bilder exakt auf das Gesichtsfeld der Operateurs legen. Die Zukunft von „Augmented Reality“ liegt aber nicht nur in der Chirurgie.
Geht es nach den Projektentwicklern von Google, werden wir sehr bald alle zu Brillenträgern. Die hochtechnisierte Sehhilfe der kalifornischen Firma informiert uns per Einblendung in unser Blickfeld über Termine, Imbissbuden auf dem Weg zur Arbeit, den Stau vor uns oder verrät uns vielleicht sogar die Namen hinter den Gesichtern, denen wir auf dem Weg begegnen. Keine Zukunftsutopie, sondern nach Informationen der Firma und der New York Times schon im nächsten Jahr auf dem Markt.
Durchblick mit dem iPad
Erweiterte oder „angereicherte“ Realität wird wohl schon bald unseren Alltag bestimmen. Für Techniker an Maschine und Mensch leistet sie schon seit einigen Jahren eine wichtige Unterstützung. Im Flugzeugbau zeigen Spezialbrillen, welche Teile zusammengehören oder besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Ärzte besitzen mit „Augmented Reality“ den Röntgenblick, der gleichzeitig die Haut und das darunter liegende Gewebe sichtbar macht.
Erst vor kurzem stellten Jens Rassweiler von der Urologischen Klinik in Heilbronn und Hans-Peter Meinzer, Informatiker am Deutschen Krebsforschungszentrum, eine Operationshilfe für Nieren- und Prostataoperationen vor. Der iPad-Bildschirm zeigt dem Chirurgen Wirbel, Nieren- beziehungsweise Prostatagewebe und den Tumor oder Stein, ohne den Patienten ständiger Röntgenbestrahlung auszusetzen. Das CT-Bild wird vor der Operation aufgenommen und liegt mit entsprechenden Markern millimetergenau über dem Livebild des Patienten. Die Software sorgt dafür, dass die Übereinstimmung auch bei Lageveränderungen stabil bleibt. Gerade bei Tumoroperationen an der Prostata, so berichtet Rassweiler, gehen 20 Prozent der Schnitte direkt in den Tumor. Mithilfe von der neuen Orientierungshilfen hofft er, diese Quote noch einmal um die die Hälfte drücken zu können.
Suchhilfe für Wächterlymphknoten
Die meisten medizinischen Anwendungen von Optiken mit relevanten Zusatzinformationen befinden sich noch im Entwicklungsstadium. Dagegen hat die Münchner Firma SurgicEye eine Freihand-SPECT-Kamera bereits auf den Markt gebracht. Sie hilft Onkologen, Sentinel-Lymphknoten im Operationsfeld zu finden, um sie dann zu biopsieren. Bei Melanom-Operationen berichten Experten von einer Rate von falsch-negativen Ergebnissen von bis zu 20 Prozent. Eine dreidimensionale Darstellung von SPECT-Bildern zusätzlich zu den anatomischen Strukturen soll den Chirurgen bei der Suche nach dem entscheidenden Lymphknoten helfen.
Am Lehrstuhl von Nassir Navab an der Technischen Universität München entstand auch ein modifizierter C-Bogen für die genaue chirurgische Schnittführung. Röntgenbild und Kamerabild sind dabei genau gegeneinander justiert. Die beiden Strahlengänge sind gleich, sodass die Bilder unabhängig von der Lage auf dem OP-Tisch sind. Im Idealfall reicht ein einziges Röntgenbild für die Navigation, um etwa einen Kirschner-Draht bei Frakturen einzusetzen. Rund 50 Operationen hat das System bereits erfolgreich bestanden.
Röntgenbild auf der Haut
Wenn der Chirurg ständig den Kopf zwischen dem Monitor mit dem Produkt von CT- oder MRT-Bildgebung und dem Operationsfeld drehen muss, geht zwangsläufig Konzentration und Ausdauer für lange Operationen verloren. Schließlich ist er gezwungen, sich auf seine Anatomiekenntnisse und Intuition für den optimalen Schnitt zu verlassen. Augmented Reality führt das Gesichtsfeld des Chirurgen und den technischen Blick in Tiefe zusammen. Für das Livebild sorgt dabei entweder ein halbtransparenter Spiegel oder eine Kamera, in den die Elektronik die Informationen vom Rechner einblendet. Bei Bedarf kann ein Beamer diese gespeicherten Bilder auch direkt auf den Patienten projizieren.
Landmarken für deckungsgleiche Justierung
Bei minimalinvasiven Operationen hilft die Technologie, die optimale Lage des Ports zu bestimmen. Entsprechende Sensoren an den Instrumenten und Navigationsmarker am Körper des Patienten zeigen dem Chirurg, wo genau sich sein Werkzug befindet, ebenso wie mögliche Gefahrenstellen in seiner Umgebung. Das Laparoskopiebild mischt sich dann mit Aufnahmen des Computertomografen oder der Ultraschallsonde.
Das „Tracking“, also die genaue Lagebestimmung von Patient und Chirurg, sowie seiner Instrumente stellt zur Zeit noch die größte Herausforderung für die angereicherten Bilder dar. Um die anfallenden Datenmengen in Echtzeit zur Verfügung zu stellen, bedarf es Hochleistungs-Prozessoren. Künstliche Landmarken sorgen für die Übereinstimmung der verschiedenen Bilder, Algorithmen für die korrekte Darstellung aus verschiedenen Blickwinkeln des Operateurs.
Virtuelle Spinnen und Bewegungsmuster
Besonders die Chirurgie profitiert von den neuen Augmented-Realtiy-Datenbrillen. Schon vor zehn Jahren nutzte sie bei Leberoperationen die Möglichkeit, Gefäßbäume, aber auch Tumoren während der Operation einzublenden, um schonende Schnitte zu setzen. Aber auch in der Psychotherapie profitiert Arzt und Phobie-Patient von der Möglichkeit gezielter Reizkonfrontation in realistischer Umgebung. Ergotherapeuten setzen ihren Patienten Spezialbrillen auf, um angestrebte Bewegungen zusammen mit dem Ist-Zustand zu zeigen.
Datenbrillen der Zukunft werden Herzoperationen bei virtuell stillstehenden Organen möglich machen. Auch Bewegungen der Atemmuskulatur setzt der Rechner in Zukunft dann in ein statisches Bild um, das Risiko unerwünschter Zwischenfälle bei der Operation sinkt. Die zitternde Hand in der Mikrochirurgie ersetzt ein Roboter. In der minimalinvasiven Chirurgie schützt Gegendruck vor dem Vordringen der Werkzeuge in gefährliche Regionen. Nassir Navab umreisst seine Strategie: „Ultimatives Ziel ist, dass die Chirurgen unsere Technologie einmal gar nicht mehr wahrnehmen, vollkommen in den OP-Prozess integriert und auf den Blick des Chirurgen abgestimmt“. Und - wer weiß - vielleicht ist Google dann auch in den OP‘s großer Kliniken nicht mehr wegzudenken?