In Deutschland laufen zwei Pilotprojekte, um Kosten im Gesundheitssystem einzusparen. Die Idee: Ein Modell, in dem Ärzte und Kassen den Gesundheitsstatus der Bevölkerung gezielt fördern, bringt eine Kopfpauschale pro Patient mit sich, die sich lohnt.
Capitation heißt eines der Modelle, das darauf abzielt, Kosten im Gesundheitswesen zu senken. Die Idee ist einfach: Für jeden Patienten steht eine Kopfpauschale X bereit - je gesünder der Patient nach Ablauf einer Zeit Y, desto mehr Gewinn verbleibt für die behandelnden Mediziner. In der Schweiz habe dieser Ansatz bereits gute Erfolge erzielt, hieß es auf dem Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit im Juni in Berlin, wo das Konzept vorgestellt wurde. "Capitation ist nicht ganz unproblematisch, denn sie kann dazu führen, dass zu wenig Leistungen für den Patienten erbracht werden. Eine Gesamtvergütung für einen erzeugten Nutzen für eine ganze Gruppe hingegen kann einen positiven Effekt haben“, sagt Helmut Hildebrandt, Vorstandsvorsitzender der Optimedis AG. In Deutschland laufen derzeit zwei Projekte, mit denen das Modell einer integrierten Versorgung angewandt wird. In den Hamburger Stadtteilen Billstedt und Horn ist das Projekt Invest im Januar gestartet. Es wird vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) für die kommenden drei Jahre mit bis zu 6,3 Millionen Euro gefördert; ein Bündnis aus Krankenkassen, Praxen, Wissenschaft und Unternehmen beteiligen sich. Die beiden Stadtteile sind gegenüber anderen in der Hansestadt stark unterprivilegiert, hier leben viele Empfänger von Sozialleistungen, Alleinerziehende und Migranten, die Menschen leiden früher und häufiger an chronischen Krankheiten wie Diabetes, COPD oder kardiovaskulären Erkrankungen. Dennoch ist die ärztliche Versorgung schlechter als andernorts. „Unsere Daten zeigen, dass die Versicherten in Horn und Billstedt bis zu 16 Jahre früher sterben als in wohlhabenderen Stadtteilen Hamburgs“, sagt Helmut Hildebrandt, Vorstand der Optimedis AG, die Gesundheitsnetzwerke entwickelt und erforscht. Integrierte Gesundheitssysteme bergen langfristig Potenzial für Kostensenkungen. © OptiMedis AG
„Fast jeder kennt die Schwachstellen aus eigener Erfahrung“, heißt es bei Optimedis: „Patienten werden zu wenig in die eigene Behandlung einbezogen; gleichzeitig fehlt es an Engagement für die eigene Gesundheit. Ärzte und Therapeuten arbeiten unter hohem Zeitdruck und fühlen sich als Einzelkämpfer. Die Kosten laufen aus dem Ruder.“ Das Projekt Invest hat nun das ehrgeizige Ziel, ein patientenorientiertes, sektorenübergreifendes Gesundheitsnetzwerk zu schaffen, das „beispielgebend für ganz Deutschland sein kann.“ Dazu bringt das Unternehmen die Akteure zusammen. Zum Beispiel durch einen Gesundheitskiosk, wo ein mehrsprachiges Team in allen Gesundheitsfragen berät. „Die Mitarbeiter aktivieren die Patienten zu mehr Eigenverantwortung“, sagt Hildebrandt. „Sie vermitteln soziale Einrichtungen sowie Sport- und Kulturangebote im Stadtteil, die den Patienten helfen, ihre Gesundheit zu erhalten. Dadurch, dass im Kiosk auch Arztbesuche vor- und nachbereitet werden, entlasten wir die Arztpraxen, denen die Kommunikation mit den Patienten aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten oft Probleme bereitet.“ Ein weiteres Ziel sei es, in Kooperation mit der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf junge Ärzte in die Region zu holen, um den Versorgungsengpass einiger Fachgruppen zu entschärfen, so Hildebrandt.
Hildebrandt hat Erfahrung auf dem Gebiet der integrierten Versorgung. Der Apotheker und Gesundheitswissenschaftler ist auch Geschäftsführer der Gesundes Kinzigtal GmbH, hier läuft seit 2006 ein ähnliches Projekt im ländlich geprägten Ortenaukreis in Baden-Württemberg. Auch hier soll die Gesundheit der Bevölkerung unterstützt und gestärkt sowie die Abläufe und die Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung verbessert werden. Mehr als 10.000 Menschen im Kinzigtal sind inzwischen dabei. Mit der Teilnahme erhalten sie einen großen Gesundheitscheck bei einem von ihnen gewählten Arzt, eine Zielvereinbarung und Unterstützung bei ihren Zielen. Im Laufe der Jahre ist im Kinzigtal ein breites Angebot entstanden, etwa Vorträge zu bewusster Ernährung, Hilfe beim Einstellen von Rauchen, Kochkurse oder besondere sportliche Unterstützung bei Rückenschmerzen oder Osteoporose. Zudem hat Gesundes Kinzigtal eine praxisübergreifende und zentrale Patientenakte (ZPA) entwickelt, in die alle beteiligten Ärzte Einblick haben, in diesem Jahr sollen auch Patienten den Medikationsplan einsehen und mit anderen teilen können.
„Die wissenschaftlichen Auswertungen zeigen, dass wir in Relation zu der Entwicklung in Baden-Württemberg ausgesprochen positive Effekte erzielen“, sagt Hildebrandt. „Unsere Wette ist: Wenn wir alle unsere Intelligenz, unser Wissen und das, was die Kollegen vor Ort an Problemen in der Versorgung erkannt haben, dazu nutzen, um für eine definierte Population eine Verbesserung im Gesundheitsstatus zu erreichen, dann müssen dadurch die Gesamtkosten sinken. Denn die Kosten im Gesundheitswesen sind ja die Folgekosten von Negativ-Ereignissen.“ Genau dieser Effekt sei im Kinzigtal eingetreten: Die Brutto-Einsparungen für die Versicherten in der Region Kinzigtal für die Jahre 2007 bis 2015 liege bei 35,5 Millionen Euro, so Hildebrandt: „Einen großen Anteil konnten wir wieder in die Versorgung reinvestieren, der andere Teil kommt den beteiligten Krankenkassen zugute - und damit auch der Solidargemeinschaft.“