Kaum mit dem Medizinstudium begonnen, schon wird man von Freunden und Fremden über die wildesten medizinischen Themen befragt. Jedes Wehwehchen wird einem in Erwartung einer Diagnose anvertraut. Und manchmal hört man Dinge, die man lieber nicht hören will…
Auch wenn dem Internet heutzutage bei Diagnosestellungen fast mehr Vertrauen geschenkt wird, als den Ärzten, wird man als angehender Mediziner von Freunden und Bekannten dann doch noch gerne um Rat gefragt. Dass man sich nicht in jeder Fachrichtung auskennen kann und dass man manches im Studium noch gar nicht gehört hat, scheint nur die wenigsten zu interessieren. Medizin ist Medizin und da muss man zu allem was im Körper vor sich geht etwas wissen und sagen können. Wie soll man darauf reagieren? Trotz Unwissen irgendwas erzählen, das sich schlau anhört? Oder lieber einen Arztbesuch empfehlen?
Die kleinen Wehwehchen
Am Wochenende zuhause, glücklich vom Studium mal abgelenkt zu sein, gemütlich beim Mittagessen sitzend, da klingelt das Telefon. Die Mutter hört sich das Leiden am anderen Ende der Leitung an und übergibt das Telefon eilig der Medizin studierenden Tochter. Die nur vom Hören bekannte Dame klagt über ziehende Schmerzen vom Rücken über den Oberschenkel bis in die Wade. Erster Gedanke: Bandscheibenvorfall. Die genaue Lokalisation des Schmerzes herauszufinden stellt sich als erste Herausforderung dar. Und eigentlich weiß man sowieso gerade ad hoc gar nicht mehr wo welches Dermatom welches Nervens ist. Der Prometheus ist nicht dabei, man ist eher ratlos, empfiehlt einen Orthopäden oder einen Neurologen.
„Das Kind hat schon die zweite Bronchitis in diesem Jahr und hatte bestimmt schon drei Erkältungen. Da ist doch was mit dem Immunsystem nicht in Ordnung, oder? Lernt ihr so was nicht in der Uni? Gibt es da nicht Medikamente, die das Immunsystem stärken?“, fragt die besorgte Cousine, die ihr kreischendes Kind im Arm hält. Wenn man jetzt sagen würde, dass Kleinkinder im Kindergarten dauernd mit neuen Viren konfrontiert werden, die für das Immunsystem noch unbekannt sind, und dass es ganz normal ist, wenn die Kinder so häufig krank werden, würde sie wahrscheinlich meinen, man habe keine Ahnung und den Nächsten fragen. Denn manchmal möchten die Menschen nur das hören, was sie sich erhoffen und selber für richtig halten.
Eine alte Schulkameradin, die man nach drei Jahren auf einem Klassentreffen wiedersieht, ist sehr glücklich zu hören, dass man Medizin studiert und erzählt von einem Kribbeln in den Füßen. Manchmal in dem einen, manchmal in dem anderen Fuß. – Polyneuropathie? – Und meistens würde das im Sitzen auftreten. – So, wie wenn der Fuß einschläft? – Ja, es sei so ähnlich, nur nicht so stark. Und manchmal trete es auch in der Hand auf. Und schon wünscht man sich in ein anderes Gespräch hinein. Eine Alkoholikerin ist sie eher nicht, Diabetes hat sie wahrscheinlich auch nicht. Carpaltunnelsyndrom, Druckläsion, vielleicht MS? Oder psychosomatisch bedingt? Im Kopf drehen sich die verrücktesten Diagnosen… Bevor man Panik schafft, da es wahrscheinlich sowieso nix ernstes ist, empfiehlt man lieber einen Arztbesuch.
Dinge von denen man gar nichts wissen will…
Auch intime Geschichten oder Dinge, die Ekel erregen, behalten die Menschen nicht für sich. Es scheint so, als ob der Glaube bestünde, dass man mit Eintritt ins Medizinstudium jeden Ekel und jeden Abstand zu allem verloren habe. Natürlich stimmt es schon, dass man sich als Mediziner, was den menschlichen Körper angeht, vielleicht vor weinigeren Sachen ekelt als manch anderer und man sich mit seinen Kommilitonen beim Mittagessen auch mal über Blut, Schleim und Exkremente unterhalten kann, ohne es wirklich zu merken. Aber in der Öffentlichkeit, nach Feierabend, ganz ohne Vorwarnung und von fremden Menschen, wird man von der Offenheit mancher von Zeit zu Zeit überrumpelt.
Dass viele ältere Menschen gerne lange, intensive Gespräche über ihre Verdauung führen, ist einem spätestens beim Pflegepraktikum bekannt. Die Häufigkeit, Farbe, Konsistenz des Stuhlganges wird einem im Einzelnen erklärt und soll analysiert werden. Natürlich ist das wichtig für die allgemeine Anamnese und auf einer gastroenterologischen Station sowieso, aber jeden Tag muss das nicht Thema sein.
Bei einem Stadtfest, auf dem man viele bekannte Gesichter wiedersieht, steuert eine ca. 45-jährige Dame auf einen zu. Woher kennt man die nochmal?! Freundin der Eltern? Nein. Und schon erzählt sie von ihren Kindern und was die tun und wie es einem denn erginge? Wie sei das Studium? „Ich war ja vor kurzem selbst in der Klinik und habe diese vielen jungen Ärzte gesehen und gleich an Sie gedacht.“ Ach ja, vom Reiten damals, die Dame hatte ein Pferd im gleichen Stall. „Ich habe nämlich solche Analfisteln. Ganz übel sag ich Ihnen.“ Und in dem Moment will man sich gerade vom Acker machen oder schleunigst in Luft auflösen, doch geht es dann schon mit den genausten Beschreibungen los.
Oder ähnlich: Im ersten Semester, noch kaum die Anatomie zu Ende gelernt und nicht mehr Ahnung von Erkrankungen als jeder andere Mensch in seinem Alter, da erzählt einem bei einem Brunch eine Bekannte von ihren immer wiederkehrenden Vaginalmykosen und ob man ihnen da helfen könne. So ist das halt als Mediziner. Dinge die man sonst nur von seinen Freunden und Vertrauten hören würde, werden einem von der ganzen Welt erzählt.
Zuhören, entspannen und einen Arzt empfehlen
Natürlich kann es manchmal nerven, wenn einen Menschen in der Freizeit nach Dingen fragen, die man vielleicht noch gar nicht oder nicht mehr weiß, aber dann sollte man es einfach zugeben oder sagen, dass man es nochmal nachlesen könnte. Denn niemand kann sich in allen Fachrichtungen gleich gut auskennen und immer alles auswendig auf Lager haben. Was die ekeligen Dinge angeht, gewöhnt man sich daran und muss das ganze vielleicht aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Man muss schon ein wenig vertrauenswürdig wirken, so dass die Menschen einem so etwas anvertrauen – und das sogar ohne den weißen Kittel. Wenn man noch Medizinstudent ist, sollte man jedoch nicht voreilig Diagnosen stellen und versuchen Menschen zu therapieren, wenn es sich nicht um viel mehr als eine Erkältung handelt. Man kann Tipps geben, welcher Arzt sich anbieten würde, etwas aufklären und beruhigen. Und froh sein, dass man noch nicht alles wissen muss.
Kennt Ihr das ständige Nachfragen von Freunden und Bekannten auch? Dann berichtet in den Kommentaren!