Mehr als nur Begleitung bei der Visite: Soll aus dem Lehrling ein guter Arzt werden, muss er selbst Hand anlegen. Damit das Risiko für den Patienten aber nicht zu groß wird, trainieren immer mehr Fachkräfte an Dummies oder am Bildschirm.
Als Notarzt und Sanitäter in der Wohnung ankommen, finden sie Franz Mayr auf seinem Sofa mit starken Brustschmerzen. Die Zigarette im Aschenbecher raucht noch. Sekunden später verliert der untersetzte ältere Herr das Bewusstsein. Sofort macht sich das Notfallteam an die Reanimation. Plötzlich kommt aus dem Hintergrund ein lautes „Stop!“
Dummies: Herzstillstand auf Knopfdruck
Was aussieht wie eine Szene bei Dreharbeiten für die Vorabend-Arzt-Serie, ist in Wirklichkeit hartes Training für Ärzte und Retter. Herr Mayr ist auch kein Schauspieler, sondern ein Hi-Tec-Dummy, der empfindlich auf Fehler des Arztes reagiert - im Notfall bis zum Exitus.
Nicht nur der plötzliche Herzinfarkt, sondern auch bis zu mehrere hundert andere Krankheitssymptome lassen sich in diese Puppen hineinprogrammieren und die Reaktion auf Medikamente, Handgriffe von Arzt und Pfleger oder chirurgische Schnitte realistisch nachstellen. Jährlich kosten Fehler bei der medizinischen Behandlung tausenden von Menschen das Leben. Die meisten davon gehen auf individuelle, vermeidbare falsche Entscheidungen zurück. Ein Grund, weshalb wie in der Luftfahrt junge Berufsanfänger genauso wie alte Hasen immer öfter an Simulatoren trainieren. Bei Bedarf auch mehrmals hintereinander, weil ein „Reset“ die Ausgangssituation wieder herstellt.
Dabei hat die ausrangierte Schaufensterpuppe oder das aufblasbare Gummi-Modell ausgedient. Der „künstliche Mensch“, der blutet, atmet und spricht, ist mittlerweile Standard. Er produziert realistische Lungen- Herz- und Bauchtöne, Blutdruckwerte und macht selbst Infusionen mit. An der Leipziger Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur entstehen Dummies, die Chirurgen gesunde und pathologische Gewebestrukturen entsprechend der realen Anatomie bieten. Nicht nur die Optik, sondern auch die Konsistenz ähneln stark den Verhältnissen unter der Haut. Entsprechende Sensoren erkennen falsche Schnitte und Fehler bei der Präparation.
Leberblutung ohne Folgen
Am AQAI-Simulationszentrum in Mainz steht mit dem „TestChest“ einer der modernsten Lungensimulatoren zur Verfügung, der wahlweise einen Patienten mit Lungenverletzungen, Schocklunge (ARDS) oder auch COPD spielt. Mit ihm lassen sich verschiedene Beatmungsmethoden üben und deren Konsequenzen anhand der veränderten Messwerte abschätzen. Aber auch unerwünschte Zwischenfälle simuliert die Technik und setzt damit den Übenden unter Stress.
Gerade die minimalinvasive Chirurgie erfordert intensives Training, bevor die Geräte im inneren des Patienten mit der notwendigen Präzision arbeiten. „Unser erster Patient wäre wahrscheinlich hoffnungslos an einer Leberblutung verstorben“ beschreibt ein Teilnehmer seine ersten Versuche am Simulator, die Gallenblase minimalinvasiv zu entfernen.
Hubschraubermodell und Simulationsklinik
Simulatoren für die Notfallmedizin mit entsprechenden Dummies, Szenarien am Unfallort, Krankenwagen oder gar Hubschrauber finden sich etwa im Human Simulation Center des entsprechenden Münchner Instituts oder bei der Arbeitsgemeinschaft Intensivmedizin (AIM) im Arnsberg-Neheim im Sauerland. Schockräume oder ein OP lassen sich mit mobilen Stellwänden schnell einrichten. Schon seit langem betreut ein ganzes Team von acht Festangestellten und 11 freien Trainern Fortzubildende im Tübinger Patientensicherheits- und Simulationszentrum TüPASS der Universitätsklinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Auf 450 Quadratmetern lassen sich verschiedenste Situationen nachstellen und einüben. Ein Tutorenkurs trägt den bezeichnenden Namen „Adrenalin pur“.
Ganze Lernkrankenhäuser - vor allem für die Ausbildung - haben die Kliniken in Heidelberg/Mannheim und Münster eingerichtet. Im Mannheimer „Thesima“ finden sich fast alle Räumlichkeiten inklusive OP, die das spätere Arbeitsumfeld der zukünftigen Klinikärzte bilden. Je nach Bedarf sind die Opfer entsprechend ausgestattete Dummies oder auch professionelle Schauspieler, die nicht nur die medizinischen Kenntnisse auf die Probe stellen, sondern auch Probleme im Arzt-Patienten-Gespräch aufdecken. Auch in München steht seit eineinhalb Jahren ein solches Simulationszentrum. Wie fast alle anderen Trainingseinrichtungen zeichnen Kamera und Mikrofon alle Aktionen auf und liefern die Grundlage für die Nachbesprechung. Hat bei der Zusammenarbeit im Team alles geklappt? War die Kommunikation deutlich und eindeutig?
Roboter mit Angst vor dem Zahnarzt
Fast alle Fachgebiete der Medizin nutzen inzwischen Simulationsmodelle zum Erwerb spezieller Fähigkeiten. Kardiologen etwa lernen mit „Cathis“ den Umgang mit verschiedenen Herzkathetern. Die Haptik, so berichten Teilnehmer, liege dabei sehr nahe an der Realität. Ophtalmologen an der Bonner Augenklinik lernen mit Videobrille und simulierter Wirklichkeit, den Augenhintergund zu untersuchen. Zahnmediziner testen mit dem japanischen „Showa Hanako 2“-Dummy nicht nur ihre praktischen Fähigkeiten, sondern auch den Umgang mit sensiblen Patienten: Zungenbewegungen, Zwinkern, Husten, Stöhnen und Niesen gehört zu seinem Repertoire, genauso wie ein „Au!“, wenn der Arzt einen Fehler begeht. Der Patient mit den ständigen Zahnproblemen entstand aus einer Zusammenarbeit zwischen einer Roboterfirma und dem Hersteller von Sex-Puppen.
Kunstfehler-Forschung in Tübingen
Wie kommt es zu ärztlichen Kunstfehlern? Wie reagieren Ärzte und Pfleger bei plötzlichen, unerwarteten Zwischenfällen? Das sind einige der Fragen, denen Forscher am Tübinger Simulationszentrum systematisch nachgehen. Die Strategien, wie das Team am besten Fehler vermeidet, erinnert inzwischen sehr stark an die Entwicklungen in der Luftfahrt. Auch dort senkten simulierte Cockpits die Zahl der Unfälle deutlich.
Ganz billig sind Puppen und Arbeitsplätze mit der vorgespiegelten Wirklichkeit freilich nicht: Ein Dummy für die Notfallmedizin, mit denen die Schüler der AIM üben, kostet rund 80.000 Euro. Dazu kommen die Reparaturen durch die ständigen Nadelstiche und Schnitte in Höhe von rund 1.500 Euro nach jeder Übung. Dazu kommen rund 5000 Euro pro Jahr für Software-Updates. Wenn jedoch bei ärztlichen Kunstfehlern Schadenersatzforderungen in fünf- bis sechsstelliger Höhe auf Kliniken zukommen, rentiert sich die Investition in das Übungsgerät.
Studiengeprüfte Trainingserfolge
Das bestätigen auch Studien, die Fehlerquoten mit und ohne Simulation verglichen haben. So kam ein Cochrane-Review vor einigen Jahren bei 23 Studien zu dem Schluss, dass beim Training in der minimalinvasiven Chirurgie weniger Fehler entstehen und genauere Arbeit mit weniger OP-Zeit für die teuren elektronischen Instruktoren sprechen. Ein Artikel in JAMA nahm mehrere hundert Studien zum Simulationstraining unter die Lupe und kam zu ähnlichen Schlüssen. Nur vier Prozent aller Studien sahen keinen Nutzen in der nachgestellten Arbeitsumgebung des Arztes.
Wie die Operation der Zukunft aussehen könnte, zeigt NeuroTouch, ein computer-simuliertes menschliches Gehirn speziell für Neurochirurgen. In Kanada vom dortigen National Research Council entwickelt, können die Entwickler es mit den Bilddaten des Patienten füttern. Der Chirurg sieht dann nicht nur auf den MRT-Aufnahmen, wo der Tumor sitzt, sondern kann die gesamte Operation im voraus simulieren. Bereits 2009 entfernten die Ärzte erfolgreich ein gutartiges Menigiom einer Patientin - nach mehrmaliger Probe. Fast wie im Film.