Erbliche Defekte im Gen für das p53-Molekül können zur explosionsartigen Entstehung von Krebszellen führen. Forscher entdeckten dies an einer aggressiven Gruppe von Hirntumoren bei Kindern. Die Explosion lässt Zellen besonders leicht zu Krebs entarten.
Im gesunden Körper entspricht die Zahl der neu produzierten Zellen exakt dem Bedarf. Manchmal schert aber eine Zelle trotz einer Vielzahl von Schutzmechanismen aus dem Verband aus und teilt sich ungebremst – Krebs entsteht. Mittlerweile ist bekannt, dass jeder bösartigen Tumorerkrankung genetische Veränderungen zugrunde liegen, die mehrere Klassen von Genen betreffen. Die Gene sind Abschnitte des Erbmoleküls DNA, die Bauanleitungen für Proteine enthalten. Ein geschädigtes Gen produziert möglicherweise ein defektes, zu viel, zu wenig oder gar kein Protein – mit fatalen Folgen.
Der erste Schritt zu einer Krebserkrankung ist gegeben, wenn ein so genanntes Onkogen durch eine Mutation überaktiv wird. Denn diese Gene stimulieren das zelluläre Wachstum. Der krankhafte Effekt zeigt aber nur Wirkung, wenn gleichzeitig ein Tumorsuppressorgen wie etwa p53 geschädigt wird. Oft wird für diese beiden Genklassen ein Auto als Vergleich hinzugezogen: Demnach wäre das Onkogen das Gaspedal für weiteres Zellwachstum, p53 hingegen die Bremse. Bei etwa der Hälfte der menschlichen Tumore finden sich fatale Veränderungen im p53-Gen. Das zugehörige p53-Protein kann dann seiner Aufgabe als „Wächter des Genoms“ nicht mehr nachkommen.
Desaster im Erbgut
Deutsche Wissenschaftler um Prof. Dr. Peter Lichter vom DKFZ und Dr. Stefan Pfisterer vom Universitätsklinikum Heidelberg stellten bei einem kleinen Mädchen, das an einem SHH-Medulloblastom erkrankt war, eine erhebliche Veränderung im Tumorsuppressor p53 fest. Dieses Protein hält nach Erbgutschädigung die Zellteilung auf, sodass die Zelle Zeit gewinnt, die DNA-Defekte zu reparieren. Sind die Schäden irreparabel, so sorgt p53 dafür, dass der programmierte Selbstmord der Zelle (Apoptose) eingeleitet wird. Als die Wissenschaftler gemeinsam mit Dr. Jan Korbel vom European Molecular Biology Laboratory (EMBL) das Tumorerbgut der jungen Patientin entzifferten, wurden sie von einem beispiellosen Chaos überrascht: Abschnitte einzelner Chromosomen waren an unzähligen Stellen zerbrochen und regelwidrig wieder zusammengebaut worden, sodass ganze Erbgutabschnitte fehlten, während andere vervielfältigt oder in falscher Orientierung eingebaut waren. Dieses riesige Schadensausmaß unterschied sich von bisher bekannten Erbgutdefekten in Tumorzellen. Eine solche Zerstörung im Erbgut bezeichnen Wissenschaftler mit dem Begriff „Chromothripsis“. Dieses erst vor kurzem entdeckte Phänomen tritt bei etwa zwei bis drei Prozent aller Krebserkrankungen auf.
Explosionsartiges Chromosomen-Chaos
Es wird vermutet, dass ein einzelnes Ereignis in der Zelle, die Chromosomen geradezu explodieren lässt. Eine allmähliche Anhäufung einzelner Mutationen, wie man sie von den meisten Krebserkrankungen kennt, kann ein solches Chaos hingegen nicht erklären. Die Heidelberger Forscher unterzogen daraufhin Gewebeproben von 98 Medulloblastomen einer Erbgutanalyse und entdeckten dabei in 13 Proben das für Chromothripsis typische Chromosomen-Chaos. Elf dieser 13 Proben stammten wiederum von besonders aggressiven SHH-Medulloblastomen. In zehn dieser elf Proben entdeckten die Forscher Mutationen im Gen für p53, die größtenteils erblich bedingt waren. „Bei allen Patienten mit einem ererbten p53-Defekt finden wir das Chromosomen-Chaos in den Krebszellen. Dagegen weist keine Tumorprobe mit intaktem p53-Gen das Schadensmuster auf – der Zusammenhang ist hoch signifikant“, berichtet Lichter. „Eine p53-Mutation prädisponiert die Zelle offenbar für Chromothripsis. Allerdings wissen wir noch nicht, ob die Mutation die Chromosomen anfälliger und zerbrechlicher macht oder ob sie die Zelle trotz Chromosomen-Chaos am Leben erhält. Eigentlich wäre der Zelltod die normale Reaktion auf solch massive Erbgutschäden“, ergänzt Korbel. Eine derartige Häufung von Chromothripsis bei einer einzelnen Krebsart war bislang nicht bekannt. Auch ein Zusammenhang zwischen Chromothripsis und einem bestimmten Gendefekt fehlte bisher.
Suche nach erblichen p53-Defekten
Daher wollen die Forscher in der Folge prüfen, ob sie bei allen Patienten mit SHH-Medulloblastomen nach erblichen p53-Mutationen suchen sollen. „Liegt eine solche Mutation vor, so haben die Betroffenen und möglicherweise deren Angehörige ein besonders hohes Krebsrisiko ohne davon zu wissen. Entdecken wir einen erblichen p53-Defekt, so können wir engmaschige Früherkennungsuntersuchungen empfehlen, um mögliche Tumoren rechtzeitig in einem behandelbaren Stadium zu entdecken“, erklärt Pfister. Noch ein weiterer Grund spricht dafür, bei Patienten mit SHH-Medulloblastomen nach erblichen p53-Mutationen zu suchen: Bei Vorliegen einer solchen Mutation ist bei der Wahl der Behandlungsmethode besondere Vorsicht geboten, denn Strahlentherapie und einige Zytostatika wirken, indem sie das Erbgut schädigen. Bei Personen mit ererbtem p53-Defekt ist die DNA-Reparatur in allen Körperzellen beeinträchtigt, sodass therapiebedingte DNA-Schädigungen leicht zu weiteren Krebserkrankungen führen können. Tatsächlich fanden die Forscher das chaotische Chromosomenmuster auch bei der akuten myeloischen Leukämie (AML) in etwa der Hälfte aller Fälle, die eine p53-Mutation aufwiesen. „Dass Mutationen im p53-Gen eine Rolle bei der Entstehung von Chromothripsis spielen, hätten wir ohne die Kombination aus klinischer Expertise und der Krebsgenom-Analyse nie entdeckt“, so Peter Lichter. „Die Sequenzierung ganzer Krebsgenome wird uns in Zukunft immer mehr Einblicke in die molekulare Entstehungsgeschichte vieler Krebserkrankungen verschaffen, so dass wir bessere und gezieltere Therapien entwickeln können.“
Das PedBrainTumor-Netzwerk
Die Studie entstand im Rahmen des PedBrainTumor-Netzwerkes, das die Erbinformation von Hirntumoren entschlüsseln soll, die bei Kindern die höchste Sterblichkeitsrate aufweisen. Das Netzwerk wurde 2010 durch die Zusammenarbeit zwischen Deutscher Krebshilfe und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ermöglicht und wird mit insgesamt 15 Mio. Euro unterstützt, davon entfallen acht Millionen Euro auf die Deutsche Krebshilfe. Das Projekt ist die erste von mittlerweile drei Beteiligungen am Internationalen Krebsgenom Konsortium (ICGC).
In diesem größten und ehrgeizigsten biomedizinischen Forschungsprojekt seit dem Humangenomprojekt haben sich führende Wissenschaftler weltweit zum Ziel gesetzt, die Genome von 50 Krebsarten zu entschlüsseln, um neue verbesserte Ansätze zur Prävention, Diagnose und Therapie zu finden. Am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen Heidelberg, einer gemeinsamen Einrichtung von DKFZ, Universitätsklinikum Heidelberg und Deutscher Krebshilfe soll in naher Zukunft begonnen werden, bei bestimmten Krebspatienten das komplette Erbgut der Tumorzellen zu analysieren. Jedes Jahr erkranken in Deutschland 450.000 Menschen neu an Krebs, rund die Hälfte davon stirbt jährlich an den Folgen der heimtückischen Erkrankung.