Die Würde des Menschen ist unantastbar, doch im medizinischen Alltag wird sie schnell verletzt. Ärzten und Pflegern mangelt es an Zeit, den Häusern an Geld. Vor diesem Hintergrund wirkten die Bemühungen der Experten auf dem Hauptstadtkongress wie Pusten im luftleeren Raum.
„Die Niere von Zimmer sechs – können wir uns Menschenwürde im Gesundheitswesen noch leisten?“ Rund 300 Ärzte und Pflegende besuchten den Vortrag auf dem Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit im Juni, um Antworten auf diese Frage zu bekommen. Der Saal war voll besetzt – ein deutliches Zeichen dafür, dass dieses Thema vielen Menschen im medizinischen Alltag unter den Nägeln brennt, vor allem mit Blick auf ein Gesundheitssystems, das immer teurer und restriktiver wird. Die Frage, ob wir uns Menschenwürde im Gesundheitswesen noch leisten können, sei für die heutige Zeit falsch gestellt, sagt einer der fünf Redner, Pflegedirektor Uwe Kropp: „Heute würde man eher sagen: ‚Die hochbetagte Niere mit Diabetes, Bluthochdruck, kognitiven Einschränkungen bei eventuell beginnender Demenz und mit multiresistenten Keimen von Zimmer sechs‘.“ Es sei von großer Bedeutung, den Menschen wieder als Ganzes zu sehen, argumentiert Kropp, er sei eben nicht an einem Körperteil isoliert krank. „Es liegt an mir, ob ich sage: ‚Die Niere von Zimmer sechs‘ oder ‚Herr Kropp von Zimmer sechs‘. Ich spare keine Zeit, wenn ich den Namen durch die Diagnose ersetze. Es geht also um eine innere Haltung, die nicht von außen bedingt ist.“
Doch wenn wir von Menschenwürde reden – was meinen wir damit überhaupt? „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, zitiert Ralf Stoecker, Professor für praktische Philosophie und Ethik, gleich zu Beginn der Veranstaltung aus dem Grundgesetz. Dass die Würde des Menschen gesetzlich verankert ist, sei eine Folge der Gräuel des Zweiten Weltkriegs, erklärt er. Seitdem sei der Begriff auch fester Bestandteil in der UN-Charta und der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – in der Geschichte und in der Philosophie sei er hingegen seit Jahrhunderten verwurzelt. Frei zu sein und Macht über sich selbst zu haben seien von alters her Kernbestandteile eines würdigen Lebens, argumentierte Stoecker. Sich aufgrund einer Krankheit nicht mehr beherrschen zu können, abhängig und auf andere angewiesen zu sein, sei hingegen kränkend – insbesondere, wenn keine Rückkehr in die alte Unabhängigkeit möglich sei. „Eine medizinische und pflegerische Behandlung muss darum besorgt sein, einerseits die Selbstbestimmung zu stärken und andererseits die Abhängigkeit nicht über Gebühr spüren zu lassen“, sagte der Philosoph. „Häufig beeinflussen Krankheiten auch unser äußeres Erscheinungsbild, wie wir uns bewegen oder wie wir reden. Das kann als lächerlich, peinlich oder beschämend empfunden werden. Zu stottern, zu torkeln oder stark zu riechen. Hinzu kommt die besondere Bedeutung von Körperlichkeit und Intimität. Die Würde des Patienten zu achten, bedeutet, sehr sensibel mit solchen Situationen umzugehen.“
Mahnende, verträgliche, oft auch ermunternde Worte waren es, die mehrheitlich von den Vortragsrednern zu hören waren – als ob es ihnen darum ginge, die vielen angespannten und besorgten Gesichter im Publikum zu beruhigen und zu beschwichtigen. Größtenteils gingen die Zuhörer mit: Eine Studentin etwa schlug vor, unvoreingenommener auf Patienten zuzugehen, ein Pfleger sagte, schon ein Moment der Zuwendung oder eine körperliche Geste könnten bei einem kranken Menschen viel bewirken. Insgesamt gesehen gingen die Vorträge jedoch größtenteils an der eigentlichen Frage vorbei. Statt einer ausführlichen Definition des Begriffs „Menschenwürde“ hätte es Antworten auf den Kern der Frage gebraucht, nämlich die, ob wir uns Würde tatsächlich leisten können, im monetären, nicht im moralischen Sinn.
Immerhin, einige kleinere Beispiele aus der Pflege wurden auf dem Podium benannt. So beschrieb einer der Redner, dass älteren Menschen häufig verwehrt werde, sich selbst zu waschen, weil es viel schneller ginge, wenn eine Pflegeperson dies in ein paar Handgriffen schnell erledige. Die ehemalige Bundesministerin und stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen BAGSO, Ursula Lehr, beschrieb, mit wieviel mehr Freude und Appetit Heimbewohner essen, wenn sie an der Zubereitung beteiligt werden. Überhaupt rückte Lehr die Probleme und Herausforderungen des Alters in den Vordergrund. „Liebe Jugend von gestern und vorgestern, liebe Senioren von morgen und übermorgen“, begrüßte sie die Zuhörer. „Wir alle werden älter“, sagt sie. „Von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr. Daran können wir nichts ändern. Aber wie wir älter werden, haben wir zum Teil auch selbst in der Hand, und es gilt nicht nur, dem Leben Jahre zu geben, sondern den Jahren Leben zu geben, und das geht nicht ohne Würde, als gesunder und als kranker Mensch.“
Ältere Patienten seien eine besondere Herausforderung für Ärzte und für Pflegende, so Lehr weiter. Mit dem Alter steige die Wahrscheinlichkeit, krank zu werden, und angesichts des demografischen Wandels würden immer mehr ältere Menschen die Krankenhausbetten füllen. „Dass auch der kranke Mensch noch viele gesunde Elemente hat, die es zu fördern gilt, das vergisst man“, sagte sie. „Man sieht eben nur die Niere und vergisst den ganzen Menschen.“ Das oft mangelnde Bewusstsein seitens Medizinern für den Patienten als Person mahnte auch Stoecker an: „In vielen beruflichen Kontexten werden aus Menschen Nummern. Niemanden stört es, wenn die Kellnerin am Tresen ruft: ‚Noch zwei Bier für Tisch acht!‘ – Warum sollte man also auf dem Stationszimmer nicht sagen dürfen: ‚Noch zwei Valium für die die Niere in Zimmer sechs‘?“ Der Unterschied liege in der besonderen Beziehung zwischen Patienten und Profis, betonte Stoecker: „Gerade weil Ärzte Patienten so nahe kommen dürfen und müssen, braucht es eine besondere Vertrauensbeziehung. Das aber bedeutet, der Patient muss sich darauf verlassen können, dass er den Profis wichtig ist, und dass sie sich um ihn kümmern.“ Dieser fromme Wunsch muss jetzt nur noch Platz im Dienstplan von Ärzten und Pflegekräften finden.