Das BfArM fällt hierzulande bei Arzneimittelinformationen vor allem durch eins auf - bürokratische Trägheit. Anders die entsprechenden US-Behörden: Im Rahmen des Government 2.0 stellen sie jetzt Ärzten und Apothekern eine umfangreichen und kostenlosen Online-Service zur Verfügung: Die "Pillbox". Dabei setzen die Amerikaner auch auf Social Media und Smartphones.
Rätselraten für Ärzte: Ein Patient landet bewusstlos in der Notaufnahme, seine Vorgeschichte scheint jedoch niemand zu kennen. Nur ein paar hellorange, ovale Tabletten mit dem Aufdruck „ML-P17“ findet man in seiner Tasche – kann dieses Corpus Delicti vielleicht Hinweise für die Akuttherapie geben? Bis dato in den USA ein schwieriges Unterfangen, Werkzeuge wie die „gelbe Liste“ mit passender „Identa“-Suche gab es nicht. Mittlerweile hat David Hale von der National Library of Medicine (NLM), National Institutes of Health, ein schnelles und einfaches Identifikationssystem geschaffen: die „Pillbox“. Und so gelang es Medizinern auch im Fall des nicht ansprechbaren Patienten, das ominöse Präparat als Doxazosin zu identifizieren, ein Alphablocker, der unter anderem gegen arterielle Hypertonie verschrieben wird. Eklatante Defizite Der Hintergrund: „Vor einigen Jahren nahm meine Abteilung an einer Besprechung zum Thema Arzneimittelsicherheit teil“, erinnert sich „Pillbox“-Entwickler David Hale. „Was sich bei den Gesprächen herauskristallisierte, war die Notwendigkeit, ein System zu schaffen, um festen Arzneiformen leichter und schneller zu identifizieren.“ Hale betont, damit könnten in den USA 6.000 bis 8.000 Todesfälle pro Jahr verhindert werden – etwa bei Vergiftungen, sollten Tabletten auffindbar sein, aber sonstige Hinweise fehlen. Zwar pflegt die FDA umfangreiche Datenbanken mit Fachinformationen zu diversen Arzneistoffen, Abbildungen fehlen jedoch oder sind von derart schlechter Qualität, dass sie in der Praxis wenig bringen. Auch kann jedes Pharmakon in unterschiedlichen Tablettenformen und -farben auf dem Markt sein, der Generikamarkt wächst immer schneller. Während nicht alle FDA-Daten frei zugänglich sind, stellt Hale seine Plattform bewusst ohne Einschränkung zur Verfügung. Dahinter steckt die Philosophie, Menschen am Wissen teilhaben zu lassen, aber zugleich von deren Erfahrungsschatz zu profitieren. Alle Quellen auf einen Klick Die „Pillbox“ kombiniert hoch aufgelöste Bilder und Informationen aus FDA-Quellen – zusammen mit einer übersichtlich und intuitiv gestalteten Benutzeroberfläche: Nach der Eingabe verschiedener Parameter wie Größe, Farbe, Form oder Aufdruck lassen sich Präparate rasch identifizieren, inklusive weiterer Fakten von Websites wie „DailyMed“, „MedLine“, „Clinical Trials“ und anderen. Das ist aber noch ausbaubar: Laut Hales Angaben enthält die „Pillbox“ mittlerweile zwar 10.562 Datensätze, aber nur 912 Bilder. Zusammen mit der FDA wurde jetzt ein Fotolabor in Rockville, Maryland, beauftragt, standardisierte Aufnahmen aller oralen Darreichungsformen zu produzieren. Teilweise stellen Firmen dafür Präparate selbst zur Verfügung, manche Arzneimittel musste die NLM dennoch zukaufen. Außerdem arbeiten Programmierer an technischen Erweiterungen, um via Suchmaske mehrere Farben abfragen zu können. Weitere Ideen sehen vor, dass Nutzer eine Tablette mit der Handy-Kamera fotografieren und via App und optischer Bilderkennung schnellstmöglich Resultate geliefert bekommen. Doch ohne Korrekturschleifen geht das nicht. Und so arbeitet die NLM eng mit der FDA und mit Herstellern zusammen, um fehlerhafte Eintragungen schnellstmöglich zu korrigieren. Gemeinsam stark Bereits in der aktuellen Betaphase, einer Version, die zwar schon produktiv arbeitet, sich aber dennoch im Teststadium befindet, gilt „Pillbox“ als wertvolle Hilfe. Doch war es bis dahin ein weiter Weg, und David Hale erinnert sich: „Ich verbrachte viel Zeit mit Ärzten, Patienten, Apothekern, Krankenschwestern sowie medizinischen Fachangestellten, um zu lernen, mit welchen Problemen sie konfrontiert werden, wenn es um die Identifizierung von Arzneimitteln geht.“ Ihm wurde bald klar, dass es mit Tools zu Erkennung von festen Arzneiformen allein nicht getan ist: „Während wir ursprünglich nur eine Bilddatenbank im Auge hatten, lernten wir schnell, was im Alltag wirklich gebraucht wird: Pharmazeutische Daten müssen leichter zugänglich sein.“ Weitere Kernpunkte waren für ihn, ein offenes, transparentes und benutzerfreundliches Werkzeug zu schaffen, vor allem aber die spätere Zielgruppe in jeden Entwicklungsschritt aktiv mit einzubinden. Dann trat Hales Team an diverse Programmierer heran. „Unsere Frage war immer die gleiche: Helfen Sie uns, dieses Tool zu entwickeln?“ Er fand begeisterte Mitstreiter, und letztlich entpuppte sich diese engagierte Gemeinschaft als entscheidender Erfolgsfaktor: Informatiker überzeugten David Hale, spezielle Programmierschnittstellen (Application Programming Interface, API) einzusetzen –ideal, um Nutzer mit einer graphischen Oberfläche zu leiten – Aufgabe eines Spezialisten, der ansonsten Computerspiele entwickelt. Auch bei der Anbindung von externen Quellen ging nichts ohne die Mitstreiter: „Wir stellte ein Team von Experten zusammen, also Pharmazeuten, Informatiker sowie Apotheker, um die FDA-Daten zu strukturieren, nur möglich durch eine solide Partnerschaft mit dieser Aufsichtsbehörde.“ Auch die pharmazeutische Industrie musste noch mit ins Boot. Wiederum galt es, etliche Gespräche führen, und wiederum hatte David Hale Erfolg. Triebkraft Idealismus Von dem Engagement seiner Community ist David Hale noch heute begeistert: „Zum Beispiel arbeitete ein Student der George Washington-Universität zwei Wochen nur an der Schnittstelle „Pillbox by Voice“, damit auch Anrufer Informationen über eine Tablette mündlich eingeben können.“ Andere Entwickler wiederum haben ein Facebook-Spiel zur Identifikation von festen Arzneiformen erschaffen oder waren mit Apps für mobile Endgeräte beschäftigt. Hale: „Das alles geschieht, während wir noch in der Beta-Phase sind!“ In jedem Entwicklungsschritt setzt der engagierte Entwickler gezielt auf das Wissen seiner Anwender. Diese rief Hale über Twitter (@NLM_Pillbox) auf, ihm Beispiele zu senden, wie sie die „Pillbox“ im Praxisalltag verwenden würden – oder ermutigte sie dazu, Schwachstellen aufzustöbern und zu melden. So entstand ein Vorzeigeprojekt des „Government 2.0“. Startup in der Regierung Dazu gehören Plattformen der öffentlichen Hand, um mit Anwendern zu interagieren. „Ich habe eine Menge meiner Hinweise gerade von jungen Unternehmen übernommen. Freunde und Kollegen im Silicon Valley scherzen schon, ich würde eine Startup-Firma innerhalb der Regierung betreiben“, scherzt Hale. Und sein Ideenreichtum ist noch lange nicht zu Ende. Neben Schnittstellen zu mobilen Endgeräten und Social Media betrifft das auch ganz prophan inhaltliche Aspekte: Zurzeit ist „Pillbox“ für den Einsatz in Kliniken noch nicht offiziell zertifiziert, was sich im Zuge des weiteren Ausbaus ändern soll.