In Braunschweig rüttelt Jürgen Wolff, Inhaber der Postapotheke, Patienten und Politiker auf: mit einem spektakulären Vortrag nach klassisch-britischer Tradition. Er bietet Krankenkassen die Stirn und fordert mehr Zivilcourage von Vertretern der Gesundheitsberufe.
Es ist kalt und dunkel am Braunschweiger Bankplatz. Passanten eilen durch den Regen nach Hause, mit Aktentaschen oder Einkaufskörben – und bleiben trotzdem stehen. Gebannt lauschen etwa 50 Bürger den Worten eines Herren auf dem Podium. Er ist kein Politiker, kein Sektenführer – sondern Apotheker. Sein Thema: die Gesundheit. Seine Mission: die Allgemeinheit vor lebensgefährlichen Folgen der Rabattverträge zu warnen. Wie im Londoner Hyde Park können alle Bürgerinnen und Bürger beim „Speakers´ Corner“ ihre Meinung äußern, und für Jürgen Wolff (66) war klar: Das Thema „tödlicher Generikaaustausch“, meist nur in Fachkreisen und Fachmedien diskutiert, gehört in die Öffentlichkeit.
Wachsender Markt – wachsende Probleme
Zum Hintergrund: Läuft der Patentschutz eines Arzneistoffs ab, sitzen Firmen schon in den Startlöchern, um selbst in die Produktion einzusteigen und günstigere Preise anzubieten. Das Interesse ist groß, gerade bei Krankenkassen: Seit 2007 können diese mit diversen Herstellern Rabattverträge abschließen. Besonders kritisch, „weil die bioverfügbare Wirkstoffmenge bei verschiedenen Generika bis zu fünfzig Prozent schwanken darf und damit jeder Wechsel mit hohen Dosisschwankungen verbunden sein kann, ohne dass der behandelnde Arzt davon erfährt oder der Patient gewarnt wird“, erklärt Wolff. Apotheker müssen das entsprechende Präparat abgeben, es sei denn, Ärzte haben „aut idem“ angekreuzt. Oftmals bleibt das Feld aber leer: Wie Branchenverbände berichten, gingen von Januar bis November 2011 etwa 494 Millionen Generika-Packungen über den HV-Tisch im Vergleich zu 129 Millionen Originalgebinden. Alles ein Problem der gesetzlich Versicherten? Keineswegs, wie das wissenschaftliche Institut der PKV herausgefunden hat. Bei privaten Erstverordnungen beträgt die Generikaquote 65,0 Prozent, und chronisch Erkrankte bekommen in 48,7 Prozent aller Fälle Austauschpräparate.
Gefährliche Substitution
Vor allem bei Präparaten mit Unterschieden in der Bioverfügbarkeit und geringer therapeutischer Breite wird die Substitution schnell zum Vabanque-Spiel. „Antkoagulantien, Schilddrüsenhormone, Antiepileptika, Hormone, Psychopharmaka, Antihypertonika und Antidiabetika ohne ärztliche Kontrolle wissentlich auszutauschen, überschreitet aus meiner Sicht die Grenze zur vorsätzlichen Körperverletzung“, stellt Wolff klar, „vor allem bei Arzneistoffen, die dauerhaft eingenommen und genau dosiert werden müssen.“ Sind Patienten nach mühevoller Kleinarbeit beispielsweise mit Opioiden einigermaßen eingestellt und damit beschwerdefrei, führen bereits die gesetzlich zulässigen Schwankungen beim Generikawechsel zur mangelhaften Schmerzstillung. Laut Professor Dr. Harald G. Schweim von der Uni Bonn kommt es statistisch gesehen bei zwei von drei Patienten zu Problemen, sollte ohne Not der Hersteller gewechselt werden. Und in der Offizin dann das bittere Ende, wie Jürgen Wolff zu berichten weiß: „Patienten, die weinen, weil sie verwirrt sind, die klagen, dass die Wirkung anders ist und täglich Patienten, von denen man weiß, dass sie nicht so recht verstehen, was überhaupt passiert.“
Heute rot – morgen grün?
Neben pharmakologischen Bedenken schadet jede Substitution auch der Therapietreue: Eine Versichertenbefragung der Forschergruppe Wahlen ergab, dass 44 Prozent aller Teilnehmer den Austausch wirkstoffgleicher Präparate ablehnen, vor allem Senioren sind verunsichert: Sie unterscheiden ihre Arzneimittel nach dem Aussehen der Packung oder der Tabletten selbst. Ein ständiger Wechsel verringert die Compliance – und erhöht Morbidität beziehungsweise Mortalität. Wolff: „Betroffen sind vor allem alte, multimorbiden Menschen, bei denen niemand hinterfragt, wenn sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert, ob es vielleicht daran gelegen haben könnte, dass ein Generikawechsel stattgefunden hat.“ Eine Meinung, die der Apotheker auch nach außen vertritt – sehr zum Ärger mancher Leistungsträger.
Maulkorb von den Kassen
In einem offenen Brief an die Deutsche BKK stellt Wolff klar, Rabattverträge nicht mehr weiter auszuführen, sollte er Bedenken haben. „In 64 von 71 Fällen, in denen Sie Kürzungen vornehmen, gegen die ich hiermit protestiere, wäre der Generikaaustausch aus pharmazeutischer Sicht eine vorsätzliche Körperverletzung“, so Wolff. Als Apotheker ist das genau genommen seine Pflicht. Die so gescholtene Kasse schlug zurück und drohte mit drakonischen Strafen von einer Verwarnung bis hin zum zeitweisen Vertragsausschluss. Zum Schweigen brachte sie den Apotheker aber nicht, vor Gericht hat er mittlerweile gewonnen – und setzt weiter auf die freie Meinungsäußerung. Dennoch bleibt Wolffs Fazit ernüchternd: „Der beklagte Arzneimittelmanager hat bis zum Schluss nicht verstanden, worum es eigentlich geht.“ Mediziner sind da wesentlich leichter zu überzeugen.
Ärzte mit im Boot
Referiert Wolff vor Ärzten, stößt er schon eher auf offene Ohren. Das zeigt sich auch bei Verordnungen: Immer häufiger kommen aus Praxen der Umgebung Rezepte mit dem Aut-idem-Vermerk. Wolff: „Das Friedrich-Wilhelm-Viertel ist ein Stadtteil in Braunschweig, in dem viele Einzelunternehmer, kleine Selbstständige, Freiberufler und eben auch viele unabhängige Ärzte zu Hause sind – ein Rückzugsgebiet für Individualunternehmer.“ Vielen ist mittlerweile klar: Wer sich nur noch an ökonomischen Zwängen orientiert, gefährdet Menschen, verliert aber auch deren Vertrauen. Doch sind Apotheker auch nicht ganz unschuldig an der aktuellen Misere.
Patientenwohl: nicht im Vordergrund
„Jahrelang haben Standesvertreter die Substitution durch Apotheker gefordert – Ärzte sollten nur noch den Wirkstoff verschreiben und die Auswahl des Generikums dem Apotheker überlassen“, kritisiert Wolf. Nicht das Patientenwohl hätte bei dieser Forderung im Vordergrund gestanden, sondern Einkaufs- und Lagerhaltungsvorteile. Sein Resümee: „Einkaufsvorteile gibt es heute nur noch für Krankenkassen – und für Apotheker haben sich die Lagerprobleme sogar verschärft, inklusive des Aufwands, Rabattarzneimittel der jeweiligen Krankenkasse überhaupt herauszufinden.“
Lawine losgetreten
Langsam werden aber selbst Versicherer hellhörig. Die Bahn-BKK etwa hatte im April 2011 versucht, mit möglichst vielen pharmazeutischen Herstellern Rabattverträge abzuschließen und so die Zahl der Substitutionen zu minimieren. Wieder einmal erwiesen sich bürokratische Hürden als Stolperfalle: Nachdem die dritte Vergabekammer des Bundes bereits Mitte 2011 eine europaweite Ausschreibung forderte, fand im Januar dieses Jahres auch der Vergabesenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf etliche Formfehler. Allerdings sei die neue Form des Abschlusses von Rabattverträgen durchaus zulässig, betonten die Richter. Und Jürgen Wolff wird auch nicht locker lassen: Patienten können ihm Zwischenfälle durch Generikasubstitutionen melden. Von den Gesundheitsberufen wünscht sich der Apotheker jedoch, dass sie in breiter Front pharmazeutische Bedenken geltend machen, falls erforderlich.