Klassische Rollenverteilung: Meist kommen Mütter mit dem kranken Nachwuchs im Schlepptau zum Pädiater. Mamas Einfluss auf ärztliche Entscheidungen ist nicht zu unterschätzen – und kann in Einzelfällen durchaus pathologische Züge annehmen.
Montag früh, eine Kinderarztpraxis in Düsseldorf. Das Wartezimmer quillt förmlich über, etliche Mütter mit ihren Sprösslingen sind wie so oft ohne Termin erschienen. Scheinbar hat das Wochenende wieder Spuren hinterlassen: Halsweh, Bauchweh oder Ohrenweh stehen auf der Tagesordnung – und das Chaos nimmt seinen Lauf.
Gelassen reagieren
„Natürlich stimmt es, dass viele – ich sag jetzt mal vor allem – Mütter besorgt um ihre Kinder sind. Manchmal machen sie sich zu viele Gedanken und kommen wegen Banalitäten fast jede Woche zum Arzt“, erzählt der Pädiater Dr. Joseph Zakarian im DocCheck-Interview. Damit ist jede Terminplanung passé und andere Eltern mit ihren kleinen Patienten müssen sich auf lange Wartezeiten einstellen. Den Schaden haben neben Kollegen - wie sollen sie etliche Einzeltermine pro Quartal abrechnen - vor allem ernsthaft kranke Kinder, für die weniger Zeit bleibt.
Erstaunlich: „Übertriebene Fürsorge ist eindeutig älteren Müttern zuzuschreiben“, weiß der Kinder- und Jugendpsychiater Professor Dr. Michael Schulte-Markwort vom Altonaer Kinderkrankenhaus in Hamburg. Diese gelten als „over protective“, sprich überbesorgt. Jüngere Mütter hingegen seien sich vieler Risiken gar nicht bewusst.
Gut gebildet – schlecht geimpft
Andererseits spielt die Schulbildung eine große Rolle, wie Forscher im Rahmen eines Kinder- und Jugendgesundheitssurveys zeigen konnten. Sie untersuchten die Durchimpfung unter soziodemografischen Gesichtspunkten und erfassten, da nach wie vor meist Mütter die pädiatrische Praxis besuchen, auch deren Bildungsgrad. Ihr Ergebnis ist auf den ersten Blick überraschend: Bereits bei den Zwei- bis Sechsjährigen fanden sie für die Unter- und Mittelschicht eine bessere Impfquote als bei der Oberschicht. Vor allem lehnten Mütter mit guter Ausbildung häufiger Mumps-Masern-Röteln-Impfungen ab. Diese Diskrepanz setzte sich bei Sieben-bis Elfjährigen noch ausgeprägter fort. Über Gründe lässt sich nur spekulieren: Höhere Bildung korreliert oft mit einem stärkeren Interesse an alternative Behandlungsweisen, klassische Therapien werden teilweise abgelehnt. Auch sind oft bessere Netzwerke vorhanden, um das kranke Kind trotz des Jobs versorgen zu können. In der pädiatrischen Praxis werden diese Aspekte mehr und mehr zum Problem.
Beruhigungspillen für die Mutter
Ein Klassiker vieler Sprechstunden: Bekanntlich muss sich das kindliche Immunsystem erst entwickeln, und so jagt ein Infekt den anderen – in der Kita stecken sich die Kleinen gegenseitig an. Mütter sind in Sorge, fehlt dem Nachwuchs vielleicht doch etwas Ernsteres? Schließlich hustet der Nachwuchs jetzt schon fast zwei Wochen. Nach einer gründlichen Untersuchung, die Lunge ist unauffällig, ansonsten deutet alles auf einen banalen Infekt hin, ist für den Kollegen schnell klar: Abwarten und Tee trinken, aber keine Pharmakotherapie einleiten. Die Mutter macht sich dennoch Gedanken und ist mit der Diagnose nicht wirklich zufrieden. Bekäme sie Antibiotika für Filius oder Filia, wäre die Sache klar gewesen. Die Praxis aber ohne Rezept zu verlassen, fällt schwer. Was bleibt, sind Homöopathika oder Phytopharmaka, unter Evidenz-Kriterien bei Husten, Schnupfen und Heiserkeit wirkungslos, unter psychologischen Aspekten dennoch unbezahlbar: Tinkturen oder Globuli helfen eher der besorgten Mutter als den Sprösslingen selbst. Würden Kollegen besagte „Therapie“ aber verweigern, gingen vor allem Mütter so lange in andere Praxen, bis doch noch einer den Rezeptblock zückt und die chemische Keule verordnet. Von noch größeren Problemen berichten Pädiater, sollten chronische Krankheiten zu therapieren sein.
Die Mutter leidet
Besonders häufig quält sich der Nachwuchs mit allergischen Erkrankungen, die Prävalenz beträgt immerhin rund zwölf Prozent. Dahinter steckt neben genetischen Faktoren und Umwelteinflüssen eine unheilige Allianz zwischen Körper und Seele: Dermatologen fanden bereits 1986 psychosomatische Auslöser und folgerten, Mütter von Neurodermitis-Kindern seien „unspontaner“, „beherrschter“ sowie „weniger emotional“. Zwar wurden diese Resultate in Fachartikeln kontrovers diskutiert, eine Sache ist heute dennoch klar: „Wir behandeln eigentlich immer drei Parteien: Mutter, Kind und Krankheit“, weiß Professor Dr. Johannes Ring von der Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Allergologie am Biederstein, Technische Universität München. In seiner Praxis sind besonders viele kleine Patienten. Ring: „Ein Beispiel: Stelle ich Fragen an das Kind, antwortet immer die Mutter.“ Statt falscher Scheu rät er zu deutlichen Worten: „Merken Sie nicht, dass ich mit Ihrem Sohn / mit Ihrer Tochter spreche?“ Das führt zwar erst einmal zur Verstimmung, langfristig gaben viele der so Gescholtenen dem Arzt aber Recht.
Ansonsten festigt sich der Teufelskreislauf: Bringen Mütter ihrem leidenden Sprössling eine unproportional hohe Aufmerksamkeit entgegen, festigen sich möglicherweise schädigende Verhaltensweisen wie das Kratzen. Da viele Symptome zu einem subjektiv mehr oder minder hohen Leidensdruck führen, sollten in der Praxis vor allem die Kinder im Mittelpunkt stehen, sprich zu Wort kommen, und nicht deren Erziehungsberechtigte. Mit Informationsangeboten können Kollegen den Teufelskreis aber durchbrechen.
Mehr Gelassenheit entwickeln
Schulungen mit dermatologischen und psychologischen Ansätzen schaffen hier Abhilfe. Die Kurse verringern nachweislich seelische Belastungen, beispielsweise das Gefühl etlicher Mütter, überfordert zu sein. Wichtige Bausteine sind Strategien zur Stressbewältigung, etwa der Umgang mit Juckreiz auslösenden Verhaltensweisen rund um Ärger und Wut. Die kleinen Patienten lernen über ihre Eltern, auch in schwierigen Situationen ein selbstsicheres Verhalten an den Tag zu legen. Mütter wiederum bekommen eine Hilfestellung, über das eigene Verhalten zu reflektieren und ihren Nachwuchs gut zu versorgen – aber nicht vor der Welt zu behüten.
Pathologische Züge
Dennoch kann Fürsorge in manchen Fällen krankhafte Formen annehmen. Besonders schockierte Kollegen die Geschichte eines kleinen Mädchens. Sie litt seit ihrer Geburt an regelmäßig wiederkehrenden Krämpfen. Schnell stand als Diagnose Epilepsie im Raum – doch konnten weder Pädiater noch Neurologen krankhafte Vorgänge nachweisen. Anfälle traten immer nur in Gegenwart der Mutter auf, nie war der Vater oder ein Arzt zugegen. Als Notfallmedikation verschrieb man schließlich Benzodiazepine – und musste später feststellen, dass die junge Frau ihr Kind damit regelrecht vollgepumpt hat, immer häufiger kam es scheinbar zu kritischen Situationen. Doch eine Sache machte alle beteiligten Mediziner schließlich stutzig: Auch während längerer Kontrollen in der Klink gab es keinerlei Krämpfe.
Ihr Verdacht: Die Erziehungsberechtigte leidet am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, einer subtilen Form der Kindesmisshandlung. Wie beim berühmt-berüchtigten Lügenbaron hat sie alle Leiden nur erfunden, um selbst im Mittelpunkt zu stehen, das Mädchen selbst ist kerngesund. Psychiater stufen die Krankheit als selten ein, vermutlich mit hoher Dunkelziffer: Seit der britische Pädiater Roy Meadow vor 35 Jahren im Fachmagazin „The Lancet“ den ersten Bericht veröffentlicht hat, wurden weltweit nur einige hundert Fälle dokumentiert – fast ausschließlich bei Müttern, die als korrekt, kooperativ und unauffällig galten.