Wie viele Krebsfälle wird es aufgrund des Unfalls in Fukushima geben? Einige Forscher glauben, dass es wenige bis gar keine sein werden. Trotz aller Kritik haben die Behörden zügig gehandelt – zumindest was den Schutz der Bevölkerung vor Strahlenexposition angeht.
Am 11. März 2011 zerstörten ein Erdbeben und ein darauf folgender Tsunami den Nordosten Japans. Mehr als 15.000 Menschen starben dabei, über 3.000 gelten noch immer als vermisst. Im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi führten verschiedene Stör- und Unfälle zur Freisetzung großer Mengen an Radioaktivität und zur Einstufung als „katastrophaler Unfall“ auf der Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse.
Dekontamination: ein Unterfangen mit Hindernissen
Es gibt keine genauen Angaben über die momentane Situation im Kernkraftwerk Fukushima. In regelmäßigen Abständen hört man noch immer, dass kleinere Lecks auftreten. Doch insgesamt scheint die Situation so weit unter Kontrolle zu sein, dass keine größeren Mengen an Radioaktivität mehr austreten werden; kleinere Freisetzungen sind noch immer möglich. Diese werden jedoch, nach Aussage von Dr. Peter Jacob, dem Leiter des Instituts für Strahlenschutz am HelmholtzZentrum München, die Kontaminationen der Umgebung nicht wesentlich verändern. Dennoch sind die direkte Umgebung des Kernkraftwerkes, sowie besonders der Nordosten Japans von zum Teil starker Kontamination der Böden betroffen. Hier spielt besonders das Radionuklid Cäsium-137 mit einer Halbwertszeit von etwa 30 Jahren eine Rolle. Aus diesem Grund planen die japanischen Behörden eine Dekontamination.
Gebiete außerhalb der 20km-Evakuierungszone, in denen die prognostizierte Strahlenexposition der Bevölkerung im ersten Jahr nach dem Unfall zwischen einem und 20 Millisievert liegt, sollen schrittweise dekontaminiert, und damit wieder bewohnbar und für die Landwirtschaft nutzbar gemacht werden. Bis August 2013 sollen die Strahlenwerte mindestens halbiert werden. Einen Zeitplan für das Gebiet innerhalb der 20km-Evakuierungszone gibt es bisher nicht. In einigen Gemeinden hat bereits eine Abtragung des Bodens begonnen, doch – wie Dr. Peter Jacob aus mehreren Quellen erfahren hat – gibt es derzeit noch keine geeigneten Orte, um das kontaminierte Erdreich zu lagern. So scheint es in manchen Orten riesige Berge an strahlendem Boden zu geben, die unter Planen und Erdreich abgedeckt aufbewahrt werden. Die Regierung strebt die Einrichtung eines Zwischenlagers für etwa 30 Jahre an, um die mehreren Millionen Kubikmeter Erdreich zu deponieren.
„Das könnte ein großes Tal sein, das mit besonders quellfähigen Tonmineralen abgedichtet wird. Eine weitere Tonschicht oben auf dem Lager könnte verhindern, dass Regen eindringt. Da sich das Cäsium fest an Tonminerale anlagert, dürfte es nicht entweichen. Allerdings müssten wir Wasser, das eventuell aus dieser Deponie heraussickert, überwachen“, wie ein Mitarbeiter einer japanischen Organisation erklärt, der mit seiner Firma Böden dekontaminiert. Doch bis dahin müssen die Gemeinden den strahlenden Boden selbst lagern. Angeblich wird die belastete Erde zum Teil direkt am Ort der Abtragung vergraben. Besonders absurd erscheint es, Schulen und Kindergärten abzuwaschen und in Schulhöfen den Boden abzutragen, um ihn dann im Schulhof zu vergraben. Die Werte sinken zwar auf ein Niveau, wie es auch natürlich vorkommt, doch die Eltern sind selbstverständlich beunruhigt.
Das Ziel einer Dekontamination ist es, langfristig die jährliche Strahlendosis auf weniger als 1 Millisievert (mSv) zu senken. Zum Vergleich: auch 20 Jahre nach dem Unfall in Tschernobyl gab es Gebiete, in denen die jährliche Strahlendosis bei zwei oder drei Millisievert lag. Wie viel ist eigentlich 1 mSv? Was ist beispielsweise eine Strahlendosis, die jeder Bürger in Deutschland pro Jahr aufnimmt? Das Bundesamt für Strahlenschutz gibt den Mittelwert für die gesamte natürliche Strahlenexposition in Deutschland mit 2,1 mSv an. Dieser Wert setzt sich zusammen aus der natürlichen Höhen- und Bodenstrahlung, der Inhalation von Radon und der Ingestion durch Nahrungsmittel. Eine Exposition von 1 mSv und darunter wird als unbedenklich angesehen; der zulässige Grenzwert der effektiven Dosis für berufliche Strahlenexposition beträgt in allen europäischen Ländern 20 mSv pro Kalenderjahr, bzw. 100 mSv in fünf Jahren.
Strahlenexposition der Bevölkerung – ein Vergleich mit Tschernobyl
Eine Kontamination der Bevölkerung durch Nahrungsmittel spielt in Japan eine untergeordnete Rolle – auch dank der strengen Grenzwerte, die die japanische Regierung sehr frühzeitig festgelegt hat. Lebensmittel werden in verschiedenen Phasen kontaminiert: direkt nach der Katastrophe erfolgte die Kontamination über die Oberfläche der Pflanzen. Daher waren Blattgemüse mit großer Oberfläche besonders stark kontaminiert. Pflanzen, die zum Zeitpunkt der Freisetzung der Radionuklide noch keine Früchte trugen, wurden zu diesem Zeitpunkt nur an den Blättern und am Stamm kontaminiert. Doch über die so genannte Translokation wurden die radioaktiven Substanzen aufgenommen und durch inneren Transport in die reifenden Früchte transportiert. In den Folgejahren erfolgt die Kontamination dann durch inkorporierte Radionuklide aus dem Boden. „Der größte Unterschied zwischen Tschernobyl und Fukushima vom Gesichtspunkt der Strahlenexposition der Bevölkerung, ist der Konsum der kontaminierten Milch. Japan hat sofort Grenzwerte gesetzt, während in der ehemaligen UdSSR die Milch weiter getrunken wurde“, erklärt Dr. Jacob. „Aus diesem Grund gibt es dort so viele zusätzliche Fälle von Schilddrüsenkrebs. Das 131Iod wurde mit der Milch inkorporiert.“
Ein Unterschied zu der Situation in Tschernobyl liegt darin, dass in Japan ein großer Teil der radioaktiven Emissionen über dem Pazifik niedergegangen ist, und dass auch kontaminiertes Wasser ins Meer geleitet wurde und möglicherweise noch geleitet wird. Wie viel Aktivität tatsächlich in das Meer gelangt ist, ist nicht bekannt. Offenbar ist aber die Verdünnung so stark, dass es bis auf Ausnahmen keine wesentliche Belastung von Fisch aus der Region gibt.
Mehr Krebs durch das Reaktorunglück in Fukushima?
Der überwiegende Teil der Strahlendosis der Bewohner der kontaminierten Gebiete ist auf die externe Exposition zurückzuführen. Die japanische Regierung hat mit der Evakuierung der Menschen im 10km-, später im 20km-Umkreis um das Kernkraftwerk bereits am 11. März begonnen, also zu einem Zeitpunkt, als die Freisetzung großer Mengen an Radioaktivität noch nicht stattgefunden hatten. Daher haben die Evakuierten sehr wenig Strahlung abbekommen. „Es ist so unendlich viel Kritik an der japanischen Regierung geäußert worden und an der einen oder anderen Stelle kann man das auch unterstützen, aber generell haben sie sehr gut und sehr vorsichtig gehandelt. Abgesehen von der Bevölkerung weniger Orte wird es nur sehr wenige Japaner geben, die mehr ionisierende Strahlung durch die Unfälle in Fukushima abbekommen, als durch eine oder zwei CT-Untersuchungen“, gibt Dr. Jacob zu bedenken. Die mittlere effektive Dosis eines CTs liegt bei 8,1 mSv, die Brustdosis einer Mammografie bei 5 mSv (0,5 mSv effektive Dosis).
Im Oktober 2011 wurde ein Screening-Programm für Kinder aus der Nähe von Fukushima initiiert. Etwa 360.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sollen bis zu ihrem 20. Lebensjahr alle zwei Jahre untersucht werden, anschließend alle fünf Jahre. Dadurch sollen Veränderungen der Schilddrüse und weitere Erkrankungen entdeckt werden, die auf den Einfluss ionisierender Strahlung zurückgeführt werden können. Der Strahlenforscher Dr. Jacob ist jedoch der Meinung, dass in Japan mit hoher Wahrscheinlichkeit keine messbare Zunahme an Krebsfällen auftreten werde: „das wäre im Widerspruch zu allem, was wir bisher wissen“. Davon geht auch Wolfgang Weiss aus, Vorsitzender einer wissenschaftlichen Kommission, die im Auftrag der UN die Folgen radiaktiver Strahlung untersucht (UNSCEAR). Einzig die Tatsache, dass nun intensiver untersucht wird, könnte nach seiner Einschätzung zu einer Erhöhung der Zahlen führen: Untersuchungen des Instituts für Strahlenschutz zeigen, dass nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl in Weißrussland dreimal mehr spontane Schilddrüsenkarzinome registriert wurden, als vor dem Unglück. Hier muss abgeschätzt werden, wie groß der Effekt ist, der allein durch intensivere Untersuchungen begründet ist. Autopsiestudien haben in der Vergangenheit gezeigt, dass zwischen zwei und 30% der Untersuchten zuvor unentdeckte Mikrokarzinome der Schilddrüse haben, die vermutlich nie Krankheitswert erlangt hätten. Im Fall von Tschernobyl zeigten Dr. Jacob und seine Kollegen im Jahr 2006 in einer Studie, dass etwa 60% der Schilddrüsenkarzinome in Weißrussland unter denjenigen, die zum Zeitpunkt des Unfalls Kinder oder Jugendliche waren, durch die Strahlung verursacht wurden.
Auch wenn kein Anstieg der Krebserkrankungen zu erwarten ist, hat die Katastrophe für betroffene Japaner lebenslange Folgen: ob sie das Trauma der Entwurzelung und den psychosozialen Stress verarbeiten können, ist unklar. Psychosozialer Stress kann auf die Dauer extremere Auswirkungen auf die Gesundheit haben, als eine Strahlenexposition innerhalb niedriger Grenzen.
Der Reaktorunfall in Japan hat für uns in Deutschland keine Gesundheitsgefahr zur Folge gehabt, die Folgen der Explosion in Tschernobyl spüren wir dagegen noch heute: Pilze und Schwarzwild, besonders aus dem Bayrischen Wald, sind noch immer stark belastet. Doch der Verzehr von 200g Pilzen mit 4.000 Bequerel 137Cäsium pro Kilogramm hat beispielsweise eine Exposition von 0,01 mSv zur Folge, ist also vernachlässigbar, wenn die Pilze nicht täglich genossen werden. Mit einem Flug von Frankfurt nach Tokio belastet man sein persönliches Strahlenkonto übrigens mit 0,06 mSv.