Dr. Oliver P. hat wieder einmal Nachtdienst und einen neuen kniffeligen Fall: Die Patientin Isidora F., 82 Jahre, allein lebend, beim nächtlichen Toilettengang um ca. 2:30 Uhr gestürzt, bei Bewusstsein, bereits analgesiert. Was wird Dr. O.P. machen?
Anamnese:
Isidora F. ist wach und orientiert, wirkt aber ein wenig verwirrt. Sie gibt an, wie öfters in der Nacht starken Harndrang verspürt zu haben. Meist müsse Sie dann sehr schnell machen, damit nichts „danebengeht“ da der Harndrang mit wenig Antizipation auftritt. Sie sei also aus dem Bett gestiegen und in der Eile wohl über ihre Hausschuhe gestolpert. Da sie nicht mehr die Reaktionsschnellste sei, habe sie sich kaum abfangen können und sei mit ziemlicher Wucht auf der rechten Seite gelandet. Danach habe sie sich nicht mehr aufrichten können und starke Schmerzen entlang der ganzen rechten Körperseite verspürt. Sie sei eigentlich soweit ganz gesund, wegen eines langjährigen Asthmas bronchiale benutze sie Budesonid - einen Glucokortikoidspray. Desweiteren leide sie an einer leichten Herzinsuffizienz und nehme dagegen Enalapril ein, einen ACE-Hemmer.
Körperliche Untersuchung:
Die 82-jährige Patientin befindet sich in gutem AZ und EZ (1,57 m, 54 kg). Sie ist wach, zu allen Qualitäten orientiert und erscheint im Moment schmerzfrei. T 36,9°C, RR 120/75, HF 68. Bei Auskultation des Herzens ist ein leiser 3. Herzton feststellbar, der sich vermutlich durch erhöhten Füllungsdruck aufgrund der bekannten Herzinsuffizienz erklären lässt. Auch die leisen basalen Rasselgeräusche bei Auskultation der Lunge entsprechen der Krankengeschichte. Das Abdomen zeigt keinen pathologischen Befund, Darmgeräusche sind regelrecht in allen vier Quadranten. Bei Inspektion fällt sofort ein großes Hämatom rechts periorbital auf. Weitere Hämatome befinden sich am rechten Arm sowie an Hüfte und Oberschenkel. Außerdem fällt bei Inspektion der unteren Extremitäten das rechte Bein auf, das nach außenrotiert liegt und kürzer wirkt als das linke. Bei Klopfen auf die Fußsohle und den Trochanter Major sowie bereits leichter Bewegung präsentiert es sich als stark schmerzhaft. Aufgrund der Kopfverletzung macht Dr. O.P. schnell eine orientierende neurologische Untersuchung der Hirnnerven die ohne pathologischen Befund bleibt. Trotzdem entschließt er sich, die Patientin notfallmäßig durchs CT zu fahren, um ein mögliches Schädelhirntrauma auszuschließen. Das gibt ihm auch ein wenig Zeit, die nötigen Untersuchungen für die Verdachtsdiagnose anzumelden, die ihm bereits durch den Kopf geht.
NUN BIST DU DRAN - WAS WÄREN DEINE DIFFERENTIALDIAGNOSEN?
Differentialdiagnosen:
Nicht nur das Alter der Patientin sondern zusätzlich die langjährige Einnahme von Glucokorticoiden lässt eine Osteoporose vermuten und macht eine Fraktur sehr wahrscheinlich.
Dr. Oliver P. begleitet die Patientin selbst ins CT und überzeugt sich, dass kein SHT vorliegt, es besteht kein Hinweis auf eine Fraktur oder Blutung. Nun muss sich Dr. OP um das tatsächliche Problem kümmern.
Seine Arbeitsdiagnose lautet: Schenkelhalsfraktur. Er erinnert sich kurz an die Einteilungen der SHF. Es gibt zwei verschiedene Klassifikationen:
1. Pauwels definiert die SHF nach dem Winkel, der zwischen den Bruchlinien und einer horizontalen „Hilfslinie“ besteht:
2. Garden definiert die Frakturen nach dem Dislokationsgrad:
WIE GEHT’S ALSO WEITER – WAS IST NUN ZU TUN – AN WELCHE DIAGNOSTIK SOLLTE UNSER ASSISTENZARZT NOCH DENKEN?
Diagnostische Maßnahmen:
Kurze Zeit später wird Oliver P. in seinem Verdacht bestätigt. Er überlegt nur noch kurz: Ist diese Fraktur eine mediale oder laterale?
WAS MEINST DU? UND WAS HAT DIESE ÜBERLEGUNG ÜBERHAUPT FÜR KONSEQUENZEN?
Isidora F. hat sich bei ihrem nächtlichen Sturz eine mediale Schenkelhalsfraktur zugezogen. Das ist ein klassisches Krankheitsbild bei Patienten in diesem Alter. Die Fraktur liegt intrakapsulär und ganz nah am Hüftkopf liegt. Bei der selteneren lateralen Fraktur liegt die Frakturlinie am Trochanter Major und befindet sich somit extrakapsulär. Der Stellung des Beins von Isidora F. nach zu urteilen, handelt es sich außerdem um eine Adduktionsfraktur, was die Varusstellung des Schenkelhalses und die Beinverkürzung erklärt. Abduktions- oder Abscherfrakturen sind eher selten. Dr. O.P. denkt noch kurz, dass mit der Dislokation des Femurs nach oben auch Verletzungen der Gefäße einhergehen können, was das Risiko einer Hüftkopfnekrose birgt – bei Frau F. ist das jedoch nicht der Fall. Die verschiedenen Frakturen werden unterschiedlich behandelt, weshalb eine Unterscheidung notwendig ist.
Bei Unklarheiten wäre nun noch ein CT angebracht. Das kann sich Dr. O.P. nach dem eindeutigen Befund aber sparen. Er kann sich nun ein wenig zurücklehnen – die wichtige Diagnostik ist gelaufen und eine derartige Fraktur wird nicht als absoluter Notfall versorgt – der operative Eingriff sollte lediglich in den nächsten 24 Stunden erfolgen. Nur wirklich instabile oder stark dislozierte Frakturen sollten innerhalb von sechs Stunden versorgt werden. Trotzdem will er aufgrund der Schmerzen seiner Patientin die schnellstmögliche Behandlung zukommen lassen. Er geht die verschiedenen Optionen durch.
Procedere:
Eine konservative Behandlung mit Krankengymnastik und Training ist bei jungen Patienten mit stabilen Frakturen Pauwels I und Garden I denkbar, bei Isidora F. jedoch nicht angebracht. Bei der Wahl der Operation müssen die Art des Bruches sowie Gesundheitszustand, Alter und Mobilität des Patienten berücksichtigt werden.
Jüngeren Patienten (bis zu einem Alter von 70 Jahren) legt man hüftkopferhaltende Verfahren nahe: Die Zugschraube, Dynamische Hüftkopfschraube oder den Gamma-Nagel. Ältere Patienten werden eher mit einer Endoprothese versorgt. Hier gibt es die Möglichkeit einer Hemiendoprothese (HEP) und Totalendoprothese (TEP), letztere ersetzt Kopf und Pfanne.
Im Falle von Frau F. wird sich für eine TEP entschieden. Isidora F. wird am nächsten Morgen auf den Eingriff vorbereitet und schläft bald ruhig unter der Vollnarkose. Intraoperativ wird nach Zugang zum Schenkelhals der frakturierte Gelenkkopf entfernt. Der Femur wird leicht aufgefräst und den Schaft der Prothese eingesetzt. Je nach Material wird der Schaft mit Knochenzement befestigt oder nicht. Die Hüftpfanne des Patienten wird ebenfalls mit einem Bohrkopf angeraut, um dann die Prothesenpfanne – meist aus Titan – einzusetzen. Die raue Oberfläche des Titans erlaubt das Einwachsen in den Knochen. Die ganze Operation dauert für Frau F. ca. 1,5 Stunden. Als Oliver P. am nächsten Tag hört, dass Isidora die OP gut überstanden hat, ist er erleichtert.
Komplikationen
Außer den allgemeinen Risiken eines operativen Eingriffs wie unter anderem Thrombose, Embolie, Wundheilungsstörungen, Blutungen oder Verletzung von Nerven, Sehnen und Blutgefäßen oder Dekubitus gibt es bei der Versorgung des Schenkelhalsbruches weitere spezielle Risiken:
Eine gefürchtete Komplikation ist eine durch starke Dislokation bedingte ungenügende Blutversorgung und somit als Folge eine Hüftkopfnekrose. Das Risiko der Hüftkopfnekrose ist bei einer Verschraubung gegeben. Außerdem kann durch eine extreme Dislokation auch der Ischiasnerv oder der N. femoralis verletzt werden. Unmittelbar nach der Operation kann es zu einer periartikulären Ossifikation kommen, was die Beweglichkeit einschränkt. Eine Revision kann erforderlich werden bei Lockerung der Prothese oder Auftreten einer Implantatallergie. Postoperativ kann eine Beinlängendifferenz auftreten.
Postoperative Versorgung
Routinemäßig wird postoperativ immer eine Röntgenkontrolle veranlasst, die bei Isidora ohne Befund erscheint. Außerdem bekommt die Patientin eine postoperative Dosis Indometacin – um das Risiko einer Entzündung und Implantatabstoßung zu vermindern – auch das ist heute für fast alle Patienten Standard. Außerdem wird eine angemessene Schmerzmedikation verabreicht. Isidora F. erholt sich schnell nach dem Eingriff und wird so bald wie möglich wieder auf die Beine gestellt, da das Ziel beim Schenkelhalsbruch eine möglich frühe Mobilisation ist. Da die Patientin eine zementierte Prothese bekommen hat, darf sie bereits am ersten Tag nach OP ein paar Meter mit der Dame der Krankengymnastik gehen. Wäre das zementfreie Procedere gewählt worden, wäre die Mobilisation erst nach ca. einer Woche erfolgt. Nach vierzehn Tagen soll Frau F. in eine schöne Rehaklinik an einem kleinen See verlegt werden.
Gerade als er sich von der alten Dame verabschiedet und ihr alles Gute wünscht, geht schon wieder sein Funk. Scheinbar wird er schon wieder in der Notaufnahme erwartet – er macht sich auf den Weg und fragt sich, welcher Fall wohl als nächstes auf ihn zukommt…