Die Mehrzahl der Menschen mit angeschlagenem Kopf spüren nach einigen Wochen nichts mehr von den Folgen ihrer Gehirnerschütterung. Manchmal reagiert das Gehirn aber auch auf leichte Beben mit schweren Funktionsausfällen - oft erst Jahre danach.
„Was geht bloß im Kopf meines Patienten vor?“ - der Arzt, der sich diese Frage stellt, versucht sich entweder empathisch in die Lage seines Anvertrauten hineinzuversetzen oder ist Neurologe. Und wer mit Kopfschmerzen einen Arzt aufsucht, hat meist nicht zuviel über den Durst getrunken, sondern häufig eine Gehirnerschütterung. Warum aber spüren manche nur leichte Kopfschmerzen nach ihrem Unfall, können sich jedoch Monate oder Jahre später nichts mehr merken, während tiefe Bewusstlosigkeit zuweilen ganz ohne Folgen bleibt? Oft sei ein ganz normales Gespräch mit Schädel-Hirn-Trauma-Patienten möglich, berichtet Veit Braun, Chefarzt der Neurochirurgischen Klinik in Siegen, zehn Minuten später könne sich der Patient aber an nichts mehr erinnern. Auch bei der mildesten Form eines solchen Traumas, der Gehirnerschütterung, sind Langzeitfolgen nicht ausgeschlossen.
Viele Daten von Boxern und Soldaten
Immerhin, rund jeder vierte erleidet irgendwann in seinem Leben einen solchen Stoß. Weitaus höher liegen die Raten bei Sportlern mit Körperkontakt zum Gegner, wie im klassischen Fall des Boxkampfs. Aber auch American Football und Rugby sind erschütterungsreich und in der neurologischen Forschung dementsprechend „beliebt“ - DocCheck berichtete. Leider liefern auch Explosionen in Kriegsgebieten besonders der amerikanischen Forschung immer wieder Teilnehmer an Studien. Trotzdem sind die Vorgänge im Schädelinneren bei Stößen immer noch weitgehend unbekannt. Schwellungen, Blutungen und das Absterben von Nervenzellen lassen sich gut mit CT und MRI beobachten. Wer aber genauer wissen möchte, wie es Nervenzellen bei einer Gehirnerschütterung geht, braucht dazu eine höher auflösende Technik. Diese liefert etwa die Diffusions-Tensor-Bildgebung, eine Variante der Kernspin-Resonanz, die Bewegung der Wassermoleküle im Blickfeld aufzeichnet.
Überaktiven Nervenzellen folgt spürbare Erschöpfung
Damit werden sich auch feine Schäden an Nervenzellen sichtbar, die durch gedehnte Axone entstehen. Jeffrey Bazarian, Neurologe an der New Yorker Rochester Klinik beschreibt sie bildhaft: „Ein Neuron ist wie eine lange dünne Spaghettinudel mit dem Zellkörper an einem Ende. Das macht sie für Dehnungen sehr empfindlich.“ Bei einem Schlag rotiert der Kopf um seine Achse im Nacken und mit ihm das Gehirn im Schädel. Dabei, so Bazarian, würden diese Spaghetti-Fasern gedehnt. Damit wird auch klar, dass die größte Belastung auf dem Gewebe liegt, dass am weitesten von der Drehachse entfernt ist, dem Frontallappen.
Vor dort gehen auch die typischen Symptome einer Gehirnerschütterung aus: Konzentrationsschwäche, Erinnerungslücken, Probleme bei der Koordination und Schwindel. Sie dauern meist nur einige Tage, manchmal aber auch Wochen und Monate. Die Dehnung der Nervenfaser reißt Natrium- und Kalziumporen der Membran auf, die beim Weiterleiten der elektrischen Potentiale wichtig sind. Wenn dann unkontrolliert Ionen in die Zelle fließen, muss sie die aufwändige Arbeit von Ionenpumpen wieder nach außen schaffen. Deswegen folgt auf die Phase von überaktiven Nervenzellen eine mit spürbarer Erschöpfung, die meist mehrere Tage anhält.
Poren-Überproduktion erhöht Empfindlichkeit
In der Zeit, die eigentlich der Erholung dienen soll, ist das Gehirn dann besonders empfindlich für weitere Erschütterungen. Und tatsächlich zeigen Statistiken von Sportlern, die mehrere Gehirnerschütterungen erlitten haben, dass die zweite meist kurz hinter der ersten folgt. Und meist ist es so, dass der der zweite Schlag den Schaden noch verschlimmert. Denn wenn Kalziumkanäle, so zeigen Laborversuche an isolierten Nervenzellen, durch den unerwünschten Zug kaputtgehen, bildet die Zelle innerhalb weniger Stunden viele neue Poren. Die aber machen die reparierte Leitung noch empfindlicher für eine erneute Belastung.
Schließlich, so fand Jamshid Ghajar von der New Yorker Brain-Trauma-Foundation, können Defekte an den Nervenzellen wandern. Kurz nach dem Trauma stellten die Forscher zuerst Schäden im Frontallappen fest. Nach einem Jahr waren aber bei einigen Patienten auch andere Regionen betroffen, die anfangs noch vollkommen in Ordnung erschienen.
Trauma mit Folgen: Alzheimer oder Epilepsie
Wenn die Dehnung auch das innere Gerüst des Nervenzellstrangs zerstört, steigt die Gefahr unerwünschter Nachwirkungen. Denn Mikrotubuli transportieren auch ein Regulatorprotein für die Synapsenbildung, das Amyloid Precursor Protein. Ohne flüssigen Transport stapeln sich die Beta-Amyloid-Proteine in Form von Plaques und sorgen für Veränderungen eines anderen Proteins: Tau. Tau-Knäuel und Amyloid-Plaques sind beide eng mit degenerativen Gehirnveränderungen verknüpft. Sie finden sich bei rund einem Drittel aller verstorbenen Opfer von Schädel-Hirn-Traumata und ähneln zumindest im äußeren Erscheinungsbild denen bei Alzheimer-Patienten. Auf der jüngsten internationalen Alzheimer-Konferenz berichteten Forscher von einem Demenzrisiko von 7 bis 15 Prozent für Trauma-Patienten. Aber auch andere neurologische Störungen beginnen manchmal mit einer einfachen Gehirnerschütterung. Jakob Christensen von der dänischen Aarhus Universität fand je nach Schwere der Verletzung ein zwei- bis siebenfaches Risiko für zukünftige epileptische Anfälle.
Alzheimer-Prävention für erschütterte Gehirne?
Für Gehirn-Erschütterte deuten sich aber auch Möglichkeiten an, ihr Degenerations-Risiko zu senken. Mark Burns von der Georgetown University in Washington gelang es mit verschiedenen Wirkstoffen die Anhäufung von Amyloid-beta Plaques bei Mäusen mit Schädel-Hirn-Trauma zu unterbinden. Die behandelten Tiere erholten sich deutlich schneller von den Folgen ihres durchgeschüttelten Gehirns. Ihre Fehlerquote bei Koordinations-Tests war nur halb so hoch wie der von Artgenossen, die keine Gamma-Sekretase-Inhibitoren bekommen hatten.
Immer deutlicher wird, dass es nach einem Unfall am Kopf auf eine gründliche Diagnostik auch noch Wochen danach ankommt. Nach früherer Lehrmeinung bleibt eine Gehirnerschütterung ohne Langzeitfolgen. Das sieht zum heutigen Zeitpunkt anders aus. Denn zuweilen ist ein solcher Unfall der Startschuss für vorzeitige Alterserscheinungen im Gehirn. Und manche Gehirnerschütterung braucht mehr als nur Ruhe.