Pro Jahr schließen in Deutschland rund 7.700 Studenten ihre Promotion an medizinischen Fakultäten ab. Gerade der Dr. med. ist dem Wissenschaftsrat schon lange ein Dorn im Auge, laufen doch etwa 90 Prozent der Arbeiten parallel zum Studium.
Harte Kritik auch an den Inhalten: Die Projekte „entsprechen nur zu einem kleinen Teil einer originären Forschungsarbeit, wie sie in anderen Fächern üblich ist“, heißt es in dem kürzlich veröffentlichten Papier „Anforderungen an die Qualitätssicherung der Promotion“. Kern einer Dissertation sei die „eigene, selbständige und originäre Forschungsleistung, die zum Erkenntnisfortschritt im jeweiligen Fach beiträgt (…).“ Und hier hat der Wissenschaftsrat bei „akademischer Massenware“ so seine Zweifel. Das Niveau studienbegleitender Doktorarbeiten entspräche in der weit überwiegenden Zahl der Fälle nicht den Standards anderer naturwissenschaftlicher Fächer, nur etwa zehn Prozent der Arbeiten erfüllen diese Richtlinien. Dr. Ulrike Beisiegel vom Wissenschaftsrat spricht deshalb von „Pro forma-“ – beziehungsweise von „Türschildforschung“. Ihre Einschätzung: „Die Promotion in der Medizin ist das, was in anderen Fächern eine Master- oder Diplomarbeit ist – nicht mehr.“ Kein Wunder, dauern entsprechende Projekte oftmals nur ein halbes Jahr – im Vergleich zu drei bis vier Jahren bei anderen Disziplinen. Europäische Geldgeber sind der gleichen Meinung wie Ulrike Beisiegel, sie fördern nach komplexer Antragstellung Jungforscher mit einem Doktortitel – außer mit dem „Dr.med.“. Dagegen protestierten die Deutsche Forschungsgemeinschaft sowie der Marburger Bund unisono, allerdings ohne Erfolg.
Ausgebucht auf Jahre
Trotzdem plädieren Vertreter des Medizinischen Fakultätentages (MFT) weiter für die studienbegleitende Promotion. MFT-Präsident Professor Dr. Dieter Bitter-Suermann: „Wir müssen den wissenschaftlichen Nachwuchs bereits im Studium prägen.“ Jeder Arzt solle lernen, wie neue Erkenntnisse mit welchen Methoden gewonnen würden, aber auch, wie die Qualität einer wissenschaftlichen Veröffentlichung einzuordnen sei. Nachher, wenn der Großteil in der Facharztweiterbildung mit den enormen Anforderungen der Klinik stecke, sei es dafür zu spät. Bitter-Suermann hält es ohnehin für wenig wahrscheinlich, dass Kollegen zwischen Approbation und Weiterbildung noch eine mehrjährige Dissertation absolvieren und dafür drei bis vier Jahre – wie in anderen Naturwissenschaften – investieren.
Doktortitel erster und zweiter Klasse?
Der mögliche Ausweg: ein Zwei-Klassen-System. Neben wissenschaftlichen Weihen, als Promotion im Anschluss an das Medizinstudium nach hehren Standards erworben, gäbe es für Kollegen in Klinik und Praxis einen separaten Titel. Im Gespräch ist schon lange der „medizinische Doktor“ – dieser hat sich quasi vom akademischen Grad zur Berufsbezeichnung verselbständigt. Entsprechende „Berufsdoktorate“, die Absolventen ohne wissenschaftliche Arbeit verliehen bekommen, sind in den USA oder in Österreich bereits üblich. Letztlich scheiterte dieser Vorschlag zur Güte am Widerstand der Hochschulmedizin. Deren Befürchtung: Kaum ein Student würde mehr eine Doktorarbeit beginnen – „die Forschung würde austrocknen“, so Bitter-Suermann.
Auch für die spätere Praxis kann ein gewisses Grundverständnis wissenschaftlicher Methodik nicht schaden, müssen Kollegen später Studien lesen und vor allem auch interpretieren können. Sind die Daten nach objektiv-wissenschaftlichen Prinzipien erhoben worden oder der Marketing-Abteilung einer Firma entsprungen? Und was verbirgt sich hinter absoluten beziehungsweise relativen Risiken, etwa zur Beurteilung des Benefits von Vorsorgemaßnahmen wie Mammographie-Screenings? Allerdings bräuchte es dafür nicht unbedingt Doktorarbeiten, entsprechende Hochschulkurse könnten so manche Wissenslücke schließen.
„Akademischer Wurmfortsatz“
Manche Kollegen sehen das Thema ohnehin recht pragmatisch. „Der Doktortitel hat für viele die Bedeutung eines Wurmfortsatzes“, kommentiert Dr. Robert Oberpeilsteiner, praktischer Arzt aus Berchtesgaden, den Disput in der „Medical Tribune“. „Hat er ihn oder hat er ihn nicht? Keiner fragt danach. Keiner, der sagt, er nützt ihm wirklich.“ Als möglichen Grund für die Promotion notiert Oberpeilsteiner, dass die berufliche Laufbahn anfangs noch nicht feststehe und man sich alle Optionen offen halten möchte. „Irgendwann ärgert man sich dann über die bereits investierte Zeit und schließt, falls es möglich ist, die Arbeit noch ab.“
Patienten scheinen das anders zu sehen: Ärzte mit Doktortitel genießen in der Bevölkerung immer noch das größere Vertrauen. Ohne Empfehlung, bei Recherchen über Internet oder Branchenbücher, entscheiden sie sich weitaus häufiger für die „Frau Doktor“ oder den „Herrn Doktor“ mit den zwei Buchstaben vor ihrem Namen. Laut Gesundheitsökonomen schlägt dieser Effekt mit bis zu 20.000 Euro pro Jahr zu Buche. Lukrative Aussichten, doch lässt sich das akademische Anhängsel nicht auch stressfreier erwerben?
Was kostet die Welt?
Eine Promotion war noch vor Jahren neben der praktischen Tätigkeit recht einfach möglich – das „Institut für Wissenschaftsberatung“ in Bergisch Gladbach bot Unterstützung gegen Bares: Für rund 20.000 Euro übernahmen deren Mitarbeiter einzelne Dienstleistungen von der Themenfindung über Kontakte zu Doktorvätern bis hin zu Literaturrecherchen, statistische Arbeiten und Formulierungshilfen. Im Herbst 2009 kam das Aus der Institution – die Kölner Staatsanwaltschaft knöpfte sich 100 Dozenten, auch Humanmediziner, vor. Der Vorwurf: Bestechlichkeit. Mittlerweile ist Gras über die Sache gewachsen, meist wurden lediglich Geldstrafen verhängt. Ein Todesstoß für die Branche war das dennoch nicht. In Fachmedien bieten Wissenschaftler nach wie vor Hilfe beim Recherchieren, Schreiben oder Redigieren von Fachtexten an. Hochschulpolitiker fordern deshalb schon lange, bei jeder Dissertation die eidesstattliche Versicherung, alle Arbeiten ohne fremde Hilfe erledigt zu haben, mit aufzunehmen.
Qualität serienmäßig
Auch in anderer Hinsicht reagieren die vom Wissenschaftsrat so arg gescholtenen medizinischen Fakultäten, etwa durch spezielle Promotionskollegs. „Ohne eine fundierte wissenschaftliche Ausbildung forschender Mediziner kann klinische Grundlagenforschung nicht erfolgreich sein“, betont Professor Dr. Heinz Beck von der Uni Bonn. Aus Hamburg oder Berlin kommen ähnliche Ansätze, um wissenschaftliches Arbeiten zu vermitteln. Eine strikte Trennung von Medizinstudium und Doktorarbeit ist jedoch in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.