Fünf bis zehn Prozent der Medizinstudenten werfen das Handtuch und brechen ihr Studium ab. Ursachen, warum sie dem Medizinstudium den Rücken kehren, sowie vorbeugende Maßnahmen gegen einen Abbruch wurden in einer großen Umfrage ermittelt.
Es gibt viele Gründe, warum angehende Ärzte den weißen Kittel an den Nagel hängen. Kein Fall gleicht dem anderen. Und doch fanden Wissenschaftler fächerübergreifende Mechanismen zur Erklärung, warum Jugendliche sich umentscheiden.
Dazu ein Blick in den Hörsaal. „Ich habe mein Medizinstudium nach einem Semester abgebrochen“, erzählt Corinna. „Zu schwierig war es mir nicht, ich habe nur gemerkt, dass es nicht der richtige Beruf für mich wäre, und die Inhalte haben mir auch nicht sonderlich zugesagt.“ Medizin sei nicht generell anspruchsvoll, sondern einfach nur oft relativ viel auf einmal. Man müsse schon gerne lernen. Thomas traf die Entscheidung wesentlich schmerzvoller nach vier Jahren. Er bestätigt: Der theoretische Teil sei „nicht so schwer“ gewesen – „Medizin besteht hauptsächlich daraus, Dinge auswendig zu lernen“. Die Klinik hat er jedoch gehasst. Kommilitonen warnt er vor dem vermeintlich gut gemeinten Rat „Es wird schon besser“. Dadurch zögere man nur Entscheidungen heraus, wie es bei ihm der Fall gewesen sei. Jeder Studienabbrecher hat seine Geschichte. Um repräsentative Aussagen zu treffen, hat das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) jetzt Ergebnisse einer repräsentativen Studie veröffentlicht.
Wissenschaftler analysierten Daten von 32 Universitäten und 28 Fachhochschulen aller Bereiche. Sie schrieben 6.029 Personen, die sich exmatrikuliert hatten, an. Die Rücklaufquote lag bei 23 Prozent. Betrachtet man sämtliche Studiengänge, die man belegen kann, brechen in Summe 29 Prozent ihr Studium ab. An Unis sind es 32 Prozent, an Fachhochschulen 27 Prozent. Das Medizinstudium schneidet vergleichsweise gut ab: „Die Staatsexamensstudiengänge sowohl in Medizin als auch in Lehramt zeichnen sich nach wie vor durch einen vergleichsweise geringen Studienabbruch aus“, schreibt Ulrich Heublein vom DZHW. „Dies unterscheidet sich nicht wesentlich von den vorangegangenen Jahrgängen. Seit Anfang der 1990er Jahre bewegt sich der Studienabbruch im Medizinstudium zwischen fünf und zehn Prozent.“ Zur Erklärung seiner erfreulichen Zahlen führt Heublein den hohen Numerus clausus, die „starke intrinsische Motivation der Studierenden“, ein „klares Berufsbild“ sowie günstige berufliche Aussichten an.
Im nächsten Schritt wollten Foscher erfahren, warum Studierende das Handtuch werfen. Sie fanden unabhängig von der Fachrichtung mehrere Beweggründe. Rund 31 (Bachelor) beziegungsweise 24 Prozent (Staatsexamen) aller Abbrecher trafen ihre Entscheidung aufgrund zu hoher Leistungsanforderungen im jeweiligen Fach. Verglichen mit früheren Befragungen gab es hier keine nennenswerten Veränderungen. 18 beziehungsweise 14 Prozent sprachen von einer zu niedrigen Motivation. Sie identifizierten sich nicht oder nicht mehr mit ihrem Fachgebiet. Nennenswerte Trends gab es auch hier nicht. Weitere 15 beziehungsweise 16 Prozent orientieren sich in ihren Erwartungen um. Sie wünschen sich eine praktischere Tätigkeit und vermissen diesen Aspekt im Studium. Außerdem wollen sich nicht etliche Semester die Hörsaalbank drücken, sondern rasch Geld verdienen. In diesem Bereich beobachtet Heublein einen Anstieg um vier Prozentpunkte, verglichen mit 2008. Dementsprechend groß sei auch das Interesse an Berufsausbildungen. Und nicht zuletzt mussten zehn beziehungsweise zwölf Prozent aller Ex-Studierenden ihre akademische Ausbildung aufgrund von gesundheitlichen Problemen abbrechen. Das sind doppelt so viele wie in 2008. Schwierigkeiten aufgrund familiärer Verpflichtungen spielten zahlenmäßig eher eine untergeordnete Rolle.
Doch wie lange zögern Studierende ihre Entscheidung hinaus? Im Schnitt entschlossen sich die Befragten, ihr Studium nach 4,7 Fachsemestern zu beenden. Das entspricht 1,6 Fachsemestern weniger als noch in 2008. Bachelor-Kandidaten (2008: 2,3 Semester; 2014: 3,8 Semester) machten eher Nägel mit Köpfen als ihre Kolegen in Staatsexamens-Studiengängen (2008: 6,7 Semester; 2014: 7,6 Semester). Besonders schnell trafen angehende Akademiker, deren Motivation nachgelassen hatte, die Entscheidung. Bekamen sie Angebote für einen Ausbildungsplatz oder einen Job, beschleunigte das ihre Entscheidung weiter. Probleme bei Klausuren sowie der Wunsch nach einer praxisnäheren Ausbildung wirkten bei der Suche nach Alternativen ebenfalls als Beschleuniger. Wer mit der Organisation oder den allgemeinen Bedingungen unzufrieden war, harrte vergleichsweise lange aus. Noch länger schob sich der Studienabbruch hinaus, wenn familiäre, persönliche oder finanzielle Problemen den Ausschlag gaben.
Die Forscher gingen noch einen Schritt weiter und versuchten, herauszufinden, ob es auch Einflussfaktoren beim Abbruch des Studiums gibt, die mit der eigenen Jugend und Kindheit beziehungsweise Erziehung zu tun haben. Eltern mit akademischem Hintergrund waren äußerst förderlich für die akademischen Leistungen der Kinder. Studienabbrecher hatten im Vergleich zu Absolventen häufiger eine Berufsausbildung abgeschlossen (23 versus 17 Prozent). Als Grund sehen die Autoren eine „starke Divergenz von berufspraktischer und akademischer Lehr- und Lernkultur“. Während fachliche Nähe gut sei, könne es bei fachfremden Ausbildungen eher zu Schwierigkeiten kommen. Wer über den klassischen Weg, sprich das Gymnasium, zur Hochschule gekommen war, hatte es besonders in der Anfangsphase leichter. Wer später sein Studium schmiss, hatte meist schon in den ersten Monaten Schwierigkeiten. Einführungskurse der Unis, speziell in Mathematik und Naturwissenschaften, schließen diese Lücke aktuell nicht.
Hier setzen die Autoren mit Forderungen an. Schulen sollen stärker als bislang Grundlagen vermitteln. Gerade Naturwissenschaften und Mathematik erweisen sich in vielen Studiengängen als Stolperstein, auch in Medizin. Von Unis wünschen sich die DZHW-Experten, über Eingangstests den Kenntnis- und Fähigkeitsstand von Studenten zu erfassen. Auf Basis besserer Daten sei es möglich, zielgerichtete Angebote zu entwickeln. Dazu gehören Mentoring-Programme, aber auch Möglichkeiten, um mehr Praxisbezug zu vermitteln und um die Motivation zu erhöhen. Und nicht zuletzt nehmen die Autoren Schüler stärker in die Pflicht, sich beizeiten zu informieren. Ringen Studierende mit der Entscheidung, neue Wege zu gehen, rät Ulrich Heublein ihnen, sich mit Hochschullehrern, Mentoren, aber vor allem mit Kommilitonen auszutauschen, um möglichst objektiv zu entscheiden. Ein Abbruch ist kein Beinbruch. Wer sich im eigenen Studium nicht wohl fühlt, permanent an seiner Entscheidung zweifelt und trotzdem durchhält, leidet womöglich später als Arzt.