Das Prinzip ist schon lange bekannt, die Umsetzung dauerte mehr als ein halbes Jahrhundert. Jetzt aber steht die Krebstherapie mit Viren vor der Anwendung in der Klinik. Sie könnte vor allem denjenigen helfen, bei denen es für andere Methoden zu spät ist.
Es ist eine niederschmetternde Diagnose, wenn der Arzt nicht nur den Primärtumor im Patienten sieht, sondern auch zahlreiche verstreute Metastasen. Operation und Bestrahlung helfen nur bedingt, die Chemotherapie stößt mit resistenten Zellen an ihre Grenzen.
Impfung beeinträchtigt das Krebswachstum
Zu den Hoffnungen auf neue Ansätze bei der Krebsbehandlung gehört der Einsatz von Viren. Viren, die nur den Tumor angreifen und normales Gewebe unbehelligt lassen. Der Wunsch nach einem solchen Krebsfresser spukt nicht nur in Köpfen von Gen-Konstrukteuren herum, sondern kommt ganz ohne menschliches Zutun in der Natur vor.
Infiziert sich ein Krebskranker mit einem Virus, so führt das nicht selten zu einem spontanen Rückgang des Tumors - ebenso wie eine Impfung mit attenuierten Viren. Aus den Erkenntnissen aus lang zurückliegender Zeit haben sich erst in den letzten Jahren konkrete Strategien mit onkolytischen Viren entwickelt. Ergebnisse in späten klinischen Studien lassen darauf schließen, dass wir bald mit dem Einsatz viraler Armeen rechnen können, nicht nur gegen seltene Tumorarten, sondern auch beispielsweise gegen Dickdarmkrebs.
Vermehrung ausschließlich im Tumor
„Zum ersten Mal in der Medizingeschichte konnten wir zeigen, dass sich Viren dauerhaft und selektiv in Tumorgewebe bei Menschen nach i.v.-Injektion vermehren“, beschreibt John Bell den jüngsten Erfolg seines kanadisch-amerikanischen Forschungsteams, den „Nature“ vor einigen Wochen veröffentlichte. Grundlage seiner Studie war ein abgewandeltes Vacciniavirus, das robust genug ist, Angriffe des menschlichen Immunsystems zu überstehen und über die Blutbahn auch zu kleinen Metastasen zu gelangen. Weil der speziell entwickelten Virusvariante das Thymidin-kinase-Gen fehlt, kann es sich nur in stark proliferierendem Gewebe vermehren. Das schnelle Wachstum des Tumors sorgt zudem für höhere Durchgängigkeit der entsprechenden Zellwände für das Virus.
23 austherapierte Patienten mit verschiedenen metastasierenden Tumoren bekamen in dieser Phase II-Studie unterschiedliche Dosen des onkolytischen Virus. Trotz bestehender Pockenschutz-Impfung bei allen Empfängern vermehrten sich bei sieben von acht Patienten mit den höchsten Dosis die Viren im Tumorgewebe - bei nur leichten grippeähnlichen Nebenwirkungen. In normalem Gewebe hatten die Zuchtviren dagegen keine Chance. Auch nach den RECIST-Kriterien zum Ansprechen von Tumorgewebe war die vorsätzliche Infektion erfolgreich. Allerdings führte die „one-shot“ Strategie der Ärzte in Ottawa noch nicht zu deutlichen klinischen Effekten.
Hohe Ansprechrate beim Melanom
Onkolytische Viren sind eine wiederentdeckte Option in der Onkologie, nachdem sich die Wissenschaft lange Zeit nicht um sie gekümmert hatte. Schwere Nebenwirkungen, tödliche Infektionen oder ein aktives Immunsystem, das schnell mit den Eindringlingen fertig wurde, machten die Winzlinge unattraktiv. Inzwischen gibt es aber eine ganze Reihe verschiedener Virenfamilien, die zur Tumortherapie taugen. Am verbreitesten ist dabei das Herpes simplex Virus, inzwischen in Phase III Studien bei Melanom-Patienten und solchen mit Kopf- und Halstumoren. Eine 20-Prozentige Ansprechrate beim schwarzen Hautkrebs hat bisher noch kein anderes Agens erreicht.
Polio gegen Hirntumore
Die Gründe, warum die Viren normales Gewebe nicht attackieren und sich nur für Krebszellen interessieren, sind ganz unterschiedlich. Adenoviren bekommen vom Labor einen modifizierten Rezeptor mit, der es ihnen erlaubt, an Zellen mit einem bei Tumorzellen exprimierten Liganden anzudocken. Coxsackieviren infizieren Zellen, deren Oberfläche dicht mit dem Adhäsionsmolekül ICAM1 besetzt ist. Auch hier interessieren sich die Entwickler von „Viralytics“ besonders für die Behandlung des malignen Melanoms. Andere Viren infizieren auch normales Gewebe, nutzen aber für ihre Vermehrung Stoffwechselwege in Zellen, die schnell wachsen.
Zu den Viren, die Tumoren ganz ohne Manipulation an ihrem Erbgut anfallen gehört etwa das Parvovirus H1. In diesen Tagen gab das Deutsche Krebsforschungszentrum bekannt, dass die Arbeitsgruppe von Jean Rommelaere in Zusammenarbeit mit der Neurochirurgischen Uniklinik Heidelberg und der Firma Oryx eine Phase I/IIa bei Glioblastom-Patienten gestartet hat. Der Parvovirus ist normalerweise in Nagern zu Hause. Es hat für den Menschen keinerlei Nebenwirkungen und wird auch vom Immunsystem nicht sofort angegriffen. Ihre geringe Größe hilft den Viren, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und sich auch über sehr diffuse Tumore herzumachen. Ein weiteres Beispiel für die Krebsaffinität von Wildtyp-Viren ist das Vesicular Stomatitis Virus. VSV scheint ebenfalls bei Gehirntumoren gute Chancen auf einen späteren Einsatz zu haben, genauso wie das Poliovirus, dem das IRES-Gen fehlt. Diese attenuierten Organismen greifen dann Gliomgewebe an, nicht aber normale neuronale Zellen.
Kombination von Schnell- und Güterzug
Besonders große Viren bieten den Vorteil, dass sie neben ihrem eigenen Genom auch noch implantierte Gene transportieren können. In das Vacciniavirus bauten die Wissenschafter aus den USA und Kanada das Gen für GM-CSF (Granulocyte macrophage colony-stimulating factor) ein, der das Immunsystem zu einer Antwort gegen den Tumor stimuliert. Die „indirekte“ Tumorlyse spielt auch für die Zukunftsaussichten eine ganz wichtige Rolle. Denn durch die Vermehrung der Viren im Tumor entstehen bei der Zerstörung des Wirts freie Tumorantigene, die dem Immunsystem nützen, um wirkungsvoll gegen den körpereigenen Feind vorzugehen.
Die Kombination von kleinen Viren mit schneller Vermehrung und großen Viren mit Transportfunktion könnten onkolytische Viren noch attraktiver für die Krebstherapie machen. Wenn dabei beispielsweise Viren mit RNA und DNA-Genom zusammenkommen, sinkt auch das Risiko, dass durch Rekombination ein neuer gefährlicher Erreger entsteht.
„Eines Tages werden Viren und andere biologische Therapien die Ansätze zur Behandlung von Krebs grundlegend verändern.“ Dass diese Prognose von John Bell vom Ottawa Hospital nicht nur der Euphorie seiner erfolgreichen Studien entspringt, zeigt ein Biotech-Deal im Januar dieses Jahres. Damals kaufte der Biotech-Riese Amgen die Entwicklungsfirma für onkolytische Viren Oncovex auf. Für eine Milliarde Dollar.