Ob Autounfall oder Altersdiabetes: Die Zahl der Amputationen steigt. Und was nicht mehr da ist, sollte auch eigentlich auch keinen Schmerz mehr verursachen. Von wegen – Patienten mit Phantomschmerz bereiten so manchem Kollegen ziemliches Kopfzerbrechen.
Früher als rein psychisches Phänomen abgetan, haben Forscher mittlerweile neue Erkenntnisse gewonnen: Prozesse im Rückenmark und im Gehirn sind für die Schmerzen verlorener Gliedmaßen verantwortlich. Und das ziemlich häufig: In Deutschland liegt die Zahl der Amputationen bei weit über 50.000 pro Jahr, für die USA werden rund 200.000 entsprechende OPs angegeben. Meist sind Arme oder Beine betroffen, aber kaum ein Körperteil lässt sich von Phantomschmerzen ausschließen.
Ist weg – tut aber weh!
Wie die europaweit größte Befragung zeigte, leiden drei von vier Patienten nach einer Arm- oder Beinamputation unter Phantomschmerzen. An der Studie nahmen 537 Betroffene teil, von denen lediglich 15 Prozent keine Beschwerden hatten. Die Beschreibung der Geplagten hingegen reicht von Kribbeln, Temperaturreizen oder Missempfindungen, als ob sich das – nicht vorhandene – Bein wie nach langen Wanderungen schwer anfühle, bis hin zu Verkrampfungen und messerstichartigen Schmerzen. Auch sind diese Missempfindungen weitaus öfter zu beobachten, sollte die Extremität vor der Amputation schon jahrelang Beschwerden verursacht haben. Erstaunlich für die Autoren: Etwa 62 Prozent klagten zusätzlich über Durchschlafstörungen. „Da Schlafmangel wiederum das Schmerzempfinden verstärkt und durch Erschöpfung Prothesen weniger genutzt werden, muss das klinisch unbedingt berücksichtigt werden“, fordert Dr. Uwe Kern vom Schmerz- und Palliativzentrum Wiesbaden. Doch wie genau es zum Phantomschmerz kommt, können Neurologen bis heute nicht allumfassend erklären.
Molekulares Missempfinden
Heute beschreiben Forscher von mehreren Prozessen aus, die bei Phantomschmerzen relevant sind: An den Stumpfenden der Patienten bilden sich Neurome, spezielle Wucherungen der Nervenenden. Diese verwachsen knäuelartig und reizen sich gegenseitig. Das allein kann aber nicht die Ursache sein, denn Patienten, denen von Geburt an bereits Gliedmaßen fehlten - man denke an die Contergan-Geschädigten - berichten über ähnliche Symptome. „Beim Phantomschmerz ersetzt das Gehirn die fehlenden Signale eines amputierten Körperteils fälschlicherweise durch Schmerz“, erklärt Professor Dr. Christoph Maier vom Berufsgenossenschaftlichen Uniklinikum Bergmannsheil, Bochum. „Auslöser dafür sind unter anderem Nervenzellen, die durch die Amputation praktisch arbeitslos geworden sind“, ergänzt Professor Dr. Thomas Weiß von der Uni Jena, Lehrstuhl für Biologische und Klinische Psychologie. Schmerzverarbeitende Strukturen verändern sich und es kommt zur Verschiebung neuronaler Funktionalitäten im Gehirn.
Weitere Erklärungsversuche gehen ebenfalls von Prozessen im hinteren Bereich des Rückenmark aus: So genannte C-Fasern, das sind spezielle Nervenfasern, die Reize weiter leiten, gehen zu Grunde. Und neuronale Impulse, die normalerweise ohne Bedeutung sind, werden plötzlich als Schmerz überinterpretiert. Dieser Vorgang wird durch die Aktivierung von Neuromen weiter verstärkt. Aber auch Stoffwechselprozesse geraten aus den Fugen. Nervenfasern produzieren vermehrt die Substanz P, ein Protein. Auch dieser Prozess verstärkt Reize, die normalerweise im Grundrauschen untergehen, bis hin zum Schmerz.
Erst planen, dann amputieren
„Phantomschmerzen sind sehr schwer zu behandeln“, sagt Weiß. Eine gute Planung des Eingriffs kann diese Pein dennoch etlichen Patienten ersparen oder den Leidensdruck zumindest reduzieren, wie diverse Untersuchungen zeigen. Das beginnt mit einer möglichst peripheren Abtrennung, gefolgt von optimalen Bedingungen im Amputationsstumpf: gekürzte Nervenenden mit Abstand zum Stumpfende, stabil fixierte Muskeln sowie eine sorgfältige Präparation des Weichteilgewebes wirken sich in der Tat positiv aus. Nachträglich lässt sich weitaus weniger machen. So zeigen Untersuchungen, dass vor allem operative Korrekturen, aber auch Techniken der Neurostimulation sowie lokalanästhetische Methoden, nicht mehr bringen als Placebo.
Pharmaka – vorher oder nachher?
Auch pharmakologisch wurden Bestrebungen unternommen, die sich vor allem an den Erfahrungen zur Behandlung neuropathischer Schmerzen orientierten. Britische Wissenschaftler untersuchten jetzt im Rahmen einer Literaturrecherche, ob präventive Analgetika-Gaben vielleicht etwas bringen könnten. Insgesamt 11 Studien kamen dafür infrage, unter anderem mit Lokalanästhetika, Opiaten, N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor-Antagonisten oder Gamma-Aminobuttersäure-Analoga, einzeln oder in Kombinationen verabreicht. Das ernüchternde Fazit: „Es gibt keine belastbaren Daten über den Einsatz der präventiven Analgesie, um das Risiko von chronischen Schmerzen nach der Amputation zu minimieren“, schreiben die Autoren. Dennoch helfen die Substanzen postoperativ, Analgetika entsprechend des WHO-Stufenschemas. Ergänzend kommen Antidepressiva, Antikonvulsiva, Neuroleptika sowie Muskelrelaxantien zum Einsatz. Schmerztherapeuten empfehlen als mögliche Strategie, kurzfristig mit dem Peptidhormon Calcitonin zu beginnen (maximal drei Tage), eventuell ergänzt durch Analgetika. Ist der Effekt nicht ausreichend, folgen Antidepressiva, Antikonvulsiva und physikalische Maßnahmen. Zeigen auch diese Strategien keine Wirkung, ist die Überweisung zum Spezialisten unumgänglich.
Prothese an, Schmerzen aus
Schmerzforscher der Uni Jena sind einen anderen Weg gegangen. Sie entwickelten spezielle Prothesen für Hand bzw. Unterarm, die über eine Manschette mit dem Oberarmstumpf verbunden werden. Ursprünglich sollten Drucksensoren nur die Griffstärke an den Fingern kontrollieren. „Unser System überträgt diese sensorischen Informationen nun auch von der Hand an den Oberarm“, so Professor Dr. Dr. Gunther Hofmann, Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie an der Uni Jena. Die Prothese gibt dem Körper folglich eine Rückmeldung, als ob sie die eigene Hand wäre. Das hat Folgen: Umstrukturierungen im Gehirn lassen sich laut den Jenaer Forschern rückgängig machen. Neben diesem High-tech-Aspekt spielen aber auch Wahrnehmungsphänomene eine Rolle: Wird die Prothese als Teil des eigenen Körpers empfunden, sind auch Phantomschmerzen deutlich seltener.
Weggespiegelt
Ein anderes Verfahren geht auf den US-amerikanischen Neurologen Vilayanur Ramachandran zurück: Bereits vor rund 15 Jahren entwickelte er die Spiegeltherapie. Der Patient sitzt hier an einem Tisch und sieht das Spiegelbild des noch vorhandenen Arms bzw. Beins. Seinem Gehirn wird vorgegaukelt, die amputierte Gliedmaße sei noch da und könne auch kontrolliert werden. Zusammen mit Sinnesreizen bzw. Bewegungen des intakten – und damit spiegelbildlich des amputierten – Arms bzw. Beins wird dem Hirn vermittelt, alles sei bestens. „Der Patient lernt, sein Phantomglied zu kontrollieren, wodurch sich die Schmerzempfindung deutlich reduzieren lässt“, sagt Christoph Maier. Dabei kommen verschiedene Methoden zum Einsatz, manchmal wirken Bewegungsübungen besser, manchmal aber Berührungsreize. Das Gute an der Methode: Nebenwirkungen sind nicht zu befürchten. Auch hier hat die virtuelle Realität bereits Einzug gehalten: Forscher der Uni Manchester entwickelten Sensoren, die sie an der nicht amputierten Extremität befestigten. Mit einem dreidimensionalen Computerprogramm und einer Datenbrille sahen die Patienten dann, wie sie beide Gliedmaßen quasi auf einmal bewegten. Bei vier von fünf Probanden traten Verbesserungen ein, teilweise sogar bei der ersten Sitzung.