In Deutschland werde zu viel operiert, heißt es immer wieder. Besonders begehrt seien „Innovationen“. Doch unabhängig davon, ob das stimmt, ist etwas unstreitig sicher: Neu ist nicht immer besser. Nur ein Beispiel ist die minimal-invasive Implantation von Knie-Prothesen.
Für einige Debatten sorgten kürzlich das Zweitmeinungs-Portal „Vorsicht Operation“ und die Aussagen ihrer Gründer. „Ich kann nicht zusehen, wie da draußen Operationen gemacht werden, die dem Patienten nichts bringen, sondern nur dem Arzt nutzen", wird der Heidelberger Knie-Experte Professor Hans Pässler zitiert, der das Portal mit anderen renommierten Orthopäden und Chirurgen ins Leben gerufen hat.
Eine Dauer-Kontroverse
Zu den Operationen, die in Deutschland zugenommen haben, zählt die Implantation von Hüft- und Knie-Prothesen. Rentner ohne künstliches Knie- oder Hüftgelenk könnten schon bald in der Minderheit sein, hieß es 2010 in einer Pressemitteilung der Barmer GEK. „Beim Einsetzen von Endoprothesen sind wir Weltmeister, da liegen selbst die USA weit hinter uns“, wird Professor Volker Ewerbeck von der Universitätsklinik Heidelberg zitiert, der kürzlich erneut auf einige Versorgungsprobleme hingewiesen hat. Eine medizinische Begründung gebe es nicht. Der ehemalige Präsident der orthopädischen Gesellschaft Professor Joachim Grifka von der Uniklinik Regensburg spreche sogar von „bedenklicher Überversorgung".
Der Sachverhalt ist bekannt: Deutschland ist Spitzenreiter in Europa bei der Zahl der künstlichen Hüft- und Kniegelenke. Fast 400.000 solcher Eingriffe pro Jahr zählt die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie – mit steigender Tendenz. Korrigiere man die Werte um den Altersanstieg, sei die Versorgung mit Hüftgelenken seit 2003 um neun Prozent gestiegen, mit Kniegelenken um 43 Prozent, so die Barmer GEK. Allein die „Anzahl der Knie-Endoprothesen-Implantationen wächst jährlich um etwa 6,8 Prozent“, schrieben 2010 auch die Mannheimer Orthopäden Professor Hanns-Peter Scharf und Dr. Astrid Schulze in einem Beitrag zum „Endoprothesenwechsel am Kniegelenk“. Die Zahlen ließen sich nicht allein durch die demografische Entwicklung erklären, sagt daher die Barmer GEK, einer der Hauptkostenträger dieser Entwicklung. Hier sei die Frage erlaubt, „ob durch zu breite Indikationsstellung bereits eine Tendenz zur Überversorgung bestehe“, so Dr. Rolf-Ulrich Schlenker, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Kasse. Aber „möglicherweise hatten wir früher eine Unterversorgung und nähern uns inzwischen nur langsam einem vernünftigen Versorgungslevel. Ich glaube, dass wir in der Vergangenheit viele Patienten nicht adäquat versorgt haben“, sagt hingegen Professor Karsten Dreinhöfer vom Medical Park Berlin Humboldtmühle, Vizepräsident des Berufsverbandes der Fachärzte für Orthopädie und Unfallchirurgie. Er glaube auch, dass es noch immer eine „Menge Patienten gibt, die von einer Prothese profitieren würden, aber eben nicht operiert werden“. Die Frage, ob es im Prothesen-Bereich eine Über-, Unter- oder Fehlversorgung gibt, wird wahrscheinlich auch das Endoprothesenregister kaum klären helfen, das dieses Jahr vereinbart wurde. Die Teilnahme ist freiwillig. Ein solches Register sage eben nichts über die jeweilige Indikationsstellung aus, so Dreinhöfer. Für die Frage nach der Versorgungsrealität wird daher wahrscheinlich weiterhin gelten, was der Hamburger Biomechaniker Professor Michael Morlock auf einer Veranstaltung des Bundesverbandes Medizintechnologie in Berlin bemerkte: Jeder könne behaupten, was er wolle, da es keine harten belastbaren Daten gebe. Studien-Analyse zeigt: mininmal-invasive Implantation kein Fortschritt
Gleichwohl ist unstreitig, dass zum einen neue medizinische Methoden, meist geadelt durch Begriffe wie Innovation oder „Durchbruch“, besondere Objekte der Begierde sind und daher immer wieder zu einer „angebots-induzierten Mengenausweitung“ führen, wie es im „Fachchinesisch“ der Experten heißt. Und zum anderen ist es unbestreitbar, dass Neues nicht immer wirklich besser ist als Altes. Oft ist es auch mehr eine Frage der Perspektive: Was für Wissenschaftler ein Fortschritt ist und für Unternehmen ein „Durchbruch“, ist für Krankenkassen ein weiterer Kostenfaktor und für Patienten manchmal nur eine Hoffnung. Ein Beispiel für das Problem „Neu gegen Alt“ ist die Alternative „minimal-invasive oder konventionelle Implantation von Knie-Endoprothesen“. Weil Minimalinvasives generell ein Trend ist, werden seit einigen Jahren auch Knie-Prothesen gerne minimal-invasiv implantiert. Ulmer Orthopäden um Professor Heiko Reichel haben sich daher einmal genauer angeschaut, welche Vor - und Nachteile diese Verfahren haben. Für ihre Metaanalyse (Erstautor Dr. Thomas Kappe) hat das Team 28 prospektive und retrospektive Studien ausgewertet.
Insgesamt wurden 2783 Knie-Totalendoprothesen untersucht. Studien, die Vergleiche der minimal-invasiven mit dem konventionellen Zugang zogen, wurden auf die Parameter Blutverlust, Weichteiltrauma, postoperative Schmerzen und Mobilisation, Beweglichkeit, Implantatpositionierung, Komplikationen sowie klinische Ergebnisse hin analysiert. Das ernüchternde Fazit der Ulmer: Die minimal-invasive Implantationstechnik habe in keinem der tatsächlichen Problembereiche einen Fortschritt gebracht. Minimal-invasive Zugänge erlaubten zwar die Implantation einer Knie-Prothese über einen kürzeren Hautschnitt. Aber das ist nur Kosmetik. Einer „potenziell zügigeren Mobilisation“ stünden jedoch „die Risiken der beeinträchtigten Wundheilung, einer erhöhten Komplikationsrate sowie häufiger fehlerhaft positionierter Implantate gegenüber“. Auch beim perioperativen Blutverlust sei kein Vorteil aus den vorhandenen Daten „ableitbar“. Vorteile gebe es allerdings bei den postoperativen Schmerzen, der Analgetika-Bedarf sei daher geringer.
Zudem seien die Patienten früher wieder mobil, mit der Rehabilitation könne früher begonnen werden, ein Pluspunkt, auf den auch kürzlich auch Privatdozent Dr. Andreas Halder, Chefarzt der Sana-Kliniken Sommerfeld, bei der Jahrestagung der Norddeutschen Orthopäden- und Unfallchirurgen hingewiesen hat. Gleichwohl sind die Ergebnisse nicht „berauschend“. Möglicherweise vermitteln sie sogar ein zu positives Bild. Denn: Bei den Studien der Ulmer Metaanalyse handelte es sich ausschließlich um publizierte Resultate aus spezialisierten Einrichtungen mit erfahrenen Operateuren. Komplikationsraten bei minimal-invasiv implantierten Knie-Prothesen in weniger spezialisierten Einrichtungen könnten sich deutlich von denen bei konventioneller Implantation unterscheiden, „vor allem während der Lernkurve“, betonen Thomas Kappe und seine Kollegen.