Das Thema Tierversuche diskutieren Befürworter und Gegner sehr emotional - auch in der Apotheke: Für jedes Arzneimittel sowie für viele Kosmetika werden entsprechende Tests gemacht. Mittlerweile haben Wissenschaftler zwar Alternativen entwickelt, diese stoßen noch oft an ihre Grenzen.
Deutschlands Forschung brummt, und dementsprechend steigt auch die Zahl der Tierversuche. Das zeigt ein aktueller Bericht des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV). Im Zeitraum von 2005 bis 2009 erhöhte sich die Zahl entsprechender Experimente von 2,4 Millionen auf 2,8 Millionen. Zahlreiche innovative Methoden hätten dazu beigetragen, dennoch weniger Tierexperimente als erwartet durchzuführen, so das Papier. Doch stoßen Alternativmethoden rasch an ihre Grenzen: „Ganz ohne Tierversuche geht es nicht“, ist sich Peter Bleser (CDU), parlamentarischer Staatssekretär im BMELV, sicher. Geht es etwa darum, die Pharmakokinetik und Pharmakodynamik eines Arzneistoffs zu untersuchen, sind Zellsysteme kein Ersatz.
Andererseits sehen sich immer mehr Forscher im biomedizinischen oder pharmazeutischen Bereich extremem Druck der Gesellschaft ausgesetzt, sollten Tierexperimente auf der Tagesordnung stehen. Und so stellte das Wissenschaftsjournal „Nature“ kürzlich fest, dass fast ein Viertel der Kollegen von Tierschutzaktivisten angegriffen würden, meist verbal, aber mitunter auch körperlich. Dazu befragte die Redaktion 1000 Forscher. Rund 90 Prozent von ihnen bewerteten Tierversuche als notwendig, aber 16 Prozent hatten dabei ein ungutes Gefühl und äußerten Zweifel.
Mäuse lügen nicht – oder etwa doch?
Gerade bei der Arzneimittelzulassung schreibt der Gesetzgeber Tierexperimente vor, beispielsweise muss die Unbedenklichkeit einer Substanz auch in nichtklinischen Studien nachgewiesen werden. Für entsprechende Toxizitätsprüfungen eignen sich Zellsysteme nur bedingt. Hier kommen Nager ins Spiel, und zwar aus gutem Grund, sind doch mehr als 15.000 Gene bei Mensch und Maus funktional verwandt. Doch sagen Labormäuse auch nicht immer die sprichwörtliche Wahrheit, wenn es um die Übertragbarkeit auf den Menschen geht. Das beginnt bei genetischen Unterschieden – die Tiere haben rund 1.000 Gene mehr als wir. Auch kamen Wissenschaftler um Preben Boysen von der norwegischen Hochschule für Veterinärwissenschaften jetzt ganz anderen Mechanismen auf die Schliche: Eine üblicherweise sterile Umgebung bekommt offenbar nicht allen Versuchstieren. Ihnen fehlt schlicht und ergreifend der Dreck, also das trainierte Immunsystem aus freier Wildbahn, wo Keime allgegenwärtig sind. Boysen verglich dazu 24 Wald- und Wiesenmäuse mit 31 Laborexemplaren – und fand signifikant mehr Killerzellen bei den Freigängern. Das wiederum lässt den Schluss zu, dass Arzneistoffe, sollten sie Zellen des Immunsystems als Ziel haben, im Labortier möglicherweise ganz anders reagieren als später im keimerprobten Menschen. Aber selbst unter idealen Bedingungen können Wissenschaftler immunologische Erkenntnisse nur zum Teil übertragen. Aktuelle Beispiele sind Arzneistoffe gegen Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose oder amyotrophe Lateralsklerose – erfolgreich beim Nager, wirkungslos beim Menschen. Laut Mark M. Davis von der Stanford University School of Medicine, USA, seien Mäuse immunologisch betrachtet eben „lausige Modelle“.
Miese Mäuse in der Pharmaforschung
Und nicht nur im Bereich der Immunologie haben forschende Pharmafirmen schmerzliche Lehrgelder gezahlt, Stichwort Contergan®: Von 1957 bis 1961 verordneten Gynäkologen zahlreichen Patientinnen in frühen Phasen der Schwangerschaft Thalidomid gegen ihre morgendliche Übelkeit. Der Wirkstoff galt als sicher – nicht zuletzt wegen der zahlreichen Versuche mit Mäusen und Ratten: Bei diesen Tieren traten im Rahmen der üblichen Dosierung eben keine Missbildungen auf. Umso länger brauchten Ärzte, bis sie die verkürzten Gliedmaßen der Kinder mit dem Arzneistoff in Verbindung brachten. Erst als der Hamburger Humangenetiker Widukind Lenz auf dessen teratogene Eigenschaften des Präparats hinwies, wurde der Fehler offensichtlich: Bei anderen Tierarten, etwa bestimmten Kaninchen- und Affenarten, traten später exakt die gleichen Defekte auf wie beim Menschen. Zu diesem Zeitpunkt waren aber schon etliche Menschen betroffen, die Schätzungen gehen hier weit auseinander: Von mindestens 5.000, höchstens aber 10.000 Opfern ist die Rede.
Ein Antikörper dreht durch
Doch nicht alle Verantwortlichen haben daraus gelernt. Im Jahr 2006 kam es bei einem klinischen Test der Phase I zu folgenschweren Ereignissen. Ein neuer Antikörper, kurz TGN1412, zur Behandlung von Multipler Sklerose, Blutkrebs und Rheuma sollte geprüft werden, eigentlich recht unspektakulär, fast schon Routine. Sechs Probanden erhielten 0,1 Milligramm des Proteins pro Kilogramm Körpergewicht. In Tierversuchen entsprach diese Dosis einem Fünfhundertstel der als harmlos erachteten Menge. Dann überschlugen sich die Ereignisse: Bereits Minuten später traten lebensbedrohliche Komplikationen auf, Kopf und Nacken schwollen an, und die Testpersonen litten unter starken Schmerzen. Dank der intensivmedizinischen Behandlung, es kam zwischenzeitlich zu multiplem Organversagen, überlebten alle Beteiligten das Experiment. Später zeigten Untersuchungen, der Antikörper war an Nagetieren und an einer Affenart getestet worden, das Dilemma: Bei Makaken variiert die Aminosäuresequenz des Arzneistoff-Zielmoleküls CD28 marginal von der menschlichen Version. Das muss scheinbar ausgereicht haben, um einen regelrechten Wirbelsturm an Entzündungsbotenstoffen auszulösen – eine fatale Konsequenz der Wahl falscher Versuchstiere. Hier kann die Antwort aber nicht lauten, beliebig viele Tierexperimente zu machen, allein schon unter ökonomischen Kriterien.
Alternativen mit drei R
Diesem Dilemma sind sich Wissenschaftler aus der biotechnologischen bzw. pharmazeutischen Forschung durchaus bewusst. Allen Bestrebungen, weniger Tiere einzusetzen, liegen die „3 R“ zu Grunde, das heißt, es wird generell versucht, Tierversuche zu verringern (reduce), zu verbessern (refine) und zu vermeiden (replace). Und so verabschiedeten Forscher mehrere Institutionen vor einigen Monaten die „Basler Deklaration“. Durch einen verantwortungsvollen Umgang sowie durch den Einsatz alternativer Methoden will man zeigen, dass Wissenschaft und Tierschutz keine Gegensätze darstellen. „Zwar werden Tierversuche in der biomedizinischen Forschung auf absehbare Zeit weiterhin nötig sein, aber wir arbeiten kontinuierlich an einer Verfeinerung der Methoden im Sinne des Tierschutzes“, sagt Professor Dr. Stefan Treue vom deutschen Primatenzentrum.
Dazu gehören vor allem, Tiermodelle durch Gewebe oder Zellkulturen zu ersetzen. Das ist Dr. Andreas C. Hocke von der Charité schon gelungen. Er entwickelte ein Modell, um Infektionen der Lunge ohne Mäuse untersuchen zu können, und erhielt dafür den mit 15.000 Euro dotierten Forschungspreis für Alternativen zum Tierversuch. Kein Einzelfall: Mehrere Forschungsgruppen arbeiten aktuell an Möglichkeiten, Keuchhusten-Impfstoffe ohne belastende Tierexperimente prüfen zu können. Forscher des Paul Ehrlich Instituts (PEI) haben bereits einen Test über den Energiestoffwechsel menschlicher Zellen entwickelt, ähnliche Erfolge werden auch aus den Niederlanden gemeldet. „Was uns nun noch fehlt, ist die Anerkennung der neuen Methode im Europäischen Arzneibuch“, sagt Dr. Thomas Montag-Lessing, Leiter des Fachgebiets „Bakteriologische Sicherheit“ am PEI. Im pharmazeutischen Bereich sind diese Bestrebungen momentan noch freiwillig.
Der Druck macht´s
Bei der Herstellung von Kosmetika wächst aber der Druck: Ab 2013 dürfen Schönheitsmittelchen und deren Ausgangsstoffe eigentlich nicht mehr vermarktet werden, falls dabei Tierversuche im Spiel sind. Momentan gelten noch etliche Ausnahmen. Jetzt sucht die Industrie händeringend nach Ersatz – werden pro Jahr in dem Bereich rund eine Million Tests an Tieren durchgeführt. Eile ist geboten, und so arbeitet das europäische Netzwerk „Safety Evaluation Ultimately Replacing Animal Testing“, kurz SEURAT-1, an Alternativen. Ob Zeit und Budget ausreichen, bezweifeln Experten aber vielerorts. Dementsprechend verlautbarte die Europäische Kommission kürzlich, sie untersuche erst einmal die Auswirkungen eines vollständigen Vermarktungsverbots. Ob als Konsequenz dieser Studie ein Aufschub für Kosmetika vorgeschlagen wird, soll bis Ende 2011 entschieden werden.