Fast die Hälfte der MS-Patienten mit Immuntherapie brechen ihre Behandlung innerhalb der ersten zwei Jahre ab, ergab eine kanadische Studie an knapp 700 Patienten. Was ist die Ursache, wie kann man Patienten bei der Stange halten? Psychologen und Neurologen suchen Antworten.
Krankheitsmodifizierende Medikamente und Immunmodulatoren sollen den Verlauf von Multiple Sklerose positiv beeinflussen. Sie können etwa bei schubförmig-remittierender Verlaufsform Exazerbationen, die Bildung neuer ZNS-Läsionen sowie die Progression der Krankheit reduzieren. Der Erfolg dieser Behandlungen wird als moderat eingestuft. Eines der Hauptprobleme der Behandlung: Die Patienten langfristig bei Therapielaune zu halten, denn die Therapieadhärenz ist schlecht und viele Patienten brechen die Behandlung komplett ab, zeigte sich wiederholt und ergab auch eine aktuelle Untersuchung in Ontario an 682 kanadischen Patienten mit schubförmiger remittierender MS. Etwa die Hälfte der Patienten brach die Behandlung mit β-Interferon oder Glatirameracetat innerhalb der ersten zwei Jahre nach Therapiebeginn ab. In nur 3,4 bis 6,5 Prozent handelte es sich dabei um einen Behandlungswechsel.
Auch für Deutschland ließen sich hohe Therapieabbruchraten belegen. Das von der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) 2001 initiierte MS-Register liefert Ergebnisse aus 2009. Dafür waren die Daten von fast 8.700 Patienten analysiert worden. Therapieunterbrechungen aufgrund eines Behandlungsstopps oder –wechsels wurden je nach MS-Typ für fast 40 bis über 60 Prozent nachgewiesen. Über 60 Prozent der Patienten mit sekundär progredienter Verlaufsform (SPMS) unterbrachen zu irgendeinem Zeitpunkt die Behandlung.
Mangelnde Therapietreue bei MS – wenige Studien zu den Ursachen
Nun sind hohe Therapieabbruchraten nicht für MS-Patienten spezifisch, auch andere chronisch Erkrankte sind häufig betroffen. Dennoch haben MS-Patienten ein besonders hohes Risiko, so Jared Bruce und Sharon Lynch der Universität von Missouri-Kansas City und der Universität Kansas. Der Psychologe und die Neurologin erörtern in einem Reviewartikel die möglichen Ursachen für die besonders häufige geringe Therapieadhärenz bei MS-Patienten. Bei Zahlen zur Therapietreue zu berücksichtigen wären natürlich auch verzögerter Therapiebeginn, irreguläre Dosierungen und Verabreichungen der verschriebenen Medikamente. Fehler bei Erhebungen sind zu erwarten, denn Selbstberichte sind nicht zuverlässig und bestimmte Personen werden an Untersuchungen zur Erfassung der Therapieadhärenz erst gar nicht teilnehmen.
In der kanadischen Studie von Wong et al. waren alle Klassen von zu spritzenden krankheitsmodifizierenden Medikamenten mit einer vergleichbar geringen Therapieadhärenz verbunden. Eine der Ursachen laut Reviewbericht: Angst vor Injektionen und damit verbundene Beschwerden. Orale Medikamente könnten hier eine Lösung sein, würden das Problem aber nicht vollständig lösen. Eine telefonische Betreuung und Beratung erwiesen sich als hilfreich. Auch die Behandlung von Depressionen verbesserte nach den Ergebnissen einer Studie die Therapieadhärenz. Weitere Faktoren, die zu Verbesserungen beitragen, sind Aufklärung, eine offene Patienten-Arzt-Kommunikation und die Reduktion von Versorgungsbarrieren. Deutlicher Forschungsbedarf besteht hinsichtlich sozialer, klinischer und emotionaler Faktoren, die die Therapieadhärenz beeinflussen.
Kosten-Nutzen-Analyse stellt Therapie in Frage
Die Kosten der Therapie waren an den kanadischen Patienten offenbar nicht die Ursache der mangelnden Therapietreue und sind auch in Deutschland nicht so hoch wie etwa in den USA. Eine US-Untersuchung zur Kosteneffektivität von Epidemiologen der Universität Rochester in New York unter Zugrundelegung von Langzeitdaten ergab unlängst, dass die Behandlung dort unwahrscheinlich teuer ist, der Profit hinsichtlich der Lebensqualität im Verhältnis eher bescheiden ausfällt. Der zehnjährige Einsatz krankheitsmodifizierender Medikamente war nur mit einem moderaten gesundheitlichen Gewinn verbunden. Ein qualitätskorrigiertes Lebensjahr (quality adjusted life year, QALY), eine Kennziffer zur Bewertung der Therapiekosten innerhalb eines Jahres im Verhältnis zum Gesundheitsnutzen, ergab jährliche Kosten von 800.000 US-Dollar.
Patienten mit Interferon-β 1a-Behandlung gewannen im Vergleich zu Patienten ohne diese Behandlung in zehn Jahren durch die krankheitsmodifizierende Therapie nur zwei Monate QUALY. Patienten mit Interferon-β-1b waren durchschnittlich sechs von zehn Jahres schubfrei, fünf Jahre waren es aber auch bei Patienten ohne krankheitsmodifizierende Behandlung. Diese Daten sagen natürlich nichts über den möglichen individuellen gesundheitlichen Gewinn der Behandlung aus, der durchaus beträchtlich sein kann. Die Kosten-Nutzen-Effektivität der Behandlung ließe sich in den USA am ehesten durch eine Kostensenkung der sehr teuren Medikamente senken.
Der individuell mangelnde erkennbare Nutzen der MS-Behandlung mag auch hierzulande eine der Ursachen für fehlende Therapietreue sein. Zugrundeliegende Faktoren der Therapielustlosigkeit zu ergründen wäre wichtig, denn die Möglichkeiten der Beeinflussung der Krankheit sind begrenzt, aber vorhanden. Denn die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vermutet, dass eine verbesserte Behandlungstreue einen größeren Nutzen für die Gesellschaft und Gesundheit hätte als die Entwicklung neuer Medikamente.