Weltweit suchen Alzheimer-Forscher nach Biomarkern im Liquor, Blut und in bildgebenden Verfahren, um frühzeitig eine sich anbahnende Demenz zu erkennen. Sprachwissenschaftler gehen nun einen ungewöhnlichen Weg: Sie suchen nach Zeichen in der Schriftsprache.
Es ist seit langem bekannt, dass Patienten mit Alzheimer-Demenz nicht allein Probleme mit dem Gedächtnis haben, sondern auch mit der Sprache, die ja eng mit der Gedächtnisfunktion verknüpft ist. Mal haben die Patienten Schwierigkeiten, ein Wort zu finden, mal sind sie zwar in der Lage, eine Katze oder einen Hund als Tier zu bezeichnen, aber nicht die Katze als Katze und den Hund als Hund - und schon gar nicht den Hund als Pudel oder Terrier. Kanadische Linguisten und Computer-Spezialisten haben sich daher gefragt, ob durch eine Analyse der Schriftsprache frühzeitig Zeichen einer Demenz erkannt werden können. Voraussetzung einer solchen Analyse ist, dass genügend individuelle schriftliche Zeugnisse aus mehreren Lebensperioden vorliegen. Die Forscher um die Computerwissenschaftlerin Xuan Le und den Anglisten Professor Ian Lancashire von der Universität von Toronto haben daher die Entwicklung der Schriftsprache von drei britischen Schriftstellern untersucht, und zwar:
Erschienen ist das Ergebnis der Analyse kürzlich in der Fachzeitschrift „Literary & Linguistic Computing“. Die kanadischen Forscher sind nicht die ersten, die linguistische Analysen zum Einfluss einer Demenz auf die Schriftsprache vorgenommen haben. Schon 1996 hatten US-Forscher, ausgehend von einer Studie mit 93 alten Nonnen, berichtet, dass sprachliche Fähigkeiten, die im frühen Lebensalter erworben werden, möglicherweise Hinweise auf das Demenz-Risiko liefern. 2005 hat dann vor allem der britische Neurowissenschaftler Dr. Peter Garrard in der Fachzeitschrift „Brain“ eine solche Auswertung von Texten von Iris Murdoch veröffentlicht. Diese Studie sei jedoch - trotz der Computer-gestützten Analyse - methodisch unzureichend gewesen; unter anderem seien nur sehr wenige, möglicherweise nicht repräsentative Passagen aus drei Novellen untersucht worden, sagen Le und ihre Kollegen. Die kanadischen Wissenschaftler haben daher 26 Novellen von Murdoch, 16 von Christie und 15 von James analysiert. Alle Novellen stammen aus unterschiedlichen Schaffensperioden; Murdoch schrieb die Texte im Alter von 35 bis 76 Jahren, Christie war zwischen 28 und 82 Jahre alt und James zwischen 42 und 82.
Abrupter Verlust beim Wortschatz und immer mehr Füllwörter
Die Analyse ergab zum Teil klare Unterschiede zwischen den individuellen Schaffensperioden und auch den Schriftstellerinnen. Bei der an Alzheimer erkrankten Murdoch etwa gab es ab 50 Jahren erste Zeichen eines abnehmenden Wortschatzes, ihre letzte Novelle („Jackson‘s Dilemma“), geschrieben im Alter von 76 Jahren, offenbarte dann einen abrupten, sehr starken Verlust. Wort-Wiederholungen und Füllwörter nahmen zu, besonders ausgeprägt wiederum im letzten Text. Ähnlich war die Entwicklung bei der vielleicht an Alzheimer erkrankten Christie. Bei der mental gesunden James hingegen nahmen der Wortschatz erst in ihren späten Novellen geringfügig ab und Wortwiederholungen leicht zu. Füllwörter wurden etwas seltener.
Auch bei der Syntax zeigten sich über die Zeit intra- und interindividuelle Unterschiede, die allerdings nicht so ausgeprägt waren wie bei den lexikalischen Parametern. Bei Murdoch etwa wurde ab einem Alter von 50 die Syntax immer simpler. Passiv-Konstruktionen nahmen insgesamt ab, vor allem Konstruktionen mit „to be“ und „by“. Konstruktionen mit „to get“ hingegen wurden häufiger. Bei Christie und James veränderte sich die Syntax bis ins hohe Alter kaum, es gab sogar eine leichte Tendenz zu einer komplexeren Syntax. Aber ähnlich wie Murdoch benutzte Christie insgesamt weniger Passiv-Konstruktionen. Auch das spezifische Muster war gleich, also Abnahme der Konstruktionen mit „to be“ sowie „by“ und Zunahme von „to get“. Anders als Murdoch und Christie verwendete James mit zunehmendem Alter immer häufiger Passiv-Konstruktionen, allein Formulierungen mit „by“ wurden etwas weniger.
Ein steiniger Weg bis zur linguistischen Frühdiagnose
Die Daten bestätigen laut Le und ihren Kollegen, dass eine linguistische Analyse möglicherweise ein relevanter Baustein in der Frühdiagnostik einer Alzheimer-Erkrankung werden könnte. Allerdings seien hierzu noch weitere, aufwendige Untersuchungen notwendig, denn zum einen verändert sich die sprachliche Leistungsfähigkeit auch mit dem normale Altern. So nimmt etwa der Wortschatz ab, allerdings weder so rasch noch so ausgeprägt wie bei einer Demenz. Auch nehmen Füllwörter zu, nur nicht so deutlich wie bei einer Demenz. Zum anderen muss noch geklärt werden, ob es überhaupt Sprach-Störungen gibt, die für die Alzheimer-Demenz spezifisch sind. Denn außer Hirnerkrankungen ganz allgemein gehen auch andere Demenz-Erkrankungen mit sprachlichen Defiziten einher, etwa die vaskuläre Demenz oder die semantische Demenz. Darüber hinaus müssten die linguistischen Parameter noch mit klinischen, bildgebenden und laborchemischen Befunden korreliert werden. Hinzu kommen außerdem sprachspezifische Analysen: Was für die eine Sprache gilt, muss für eine andere noch bewiesen werden.
Eine ganz besondere Herausforderung jedoch dürfte es sein, von Menschen, die nicht schriftstellerisch tätig sind, genügend repräsentative Texte aus mehreren Lebensabschnitten zu erhalten. Es stellt sich somit die Frage nach der Alltagstauglichkeit linguistischer Analysen zur Demenz-Frühdiagnostik. In den gerade aktualisierten und publizierten US-Leitlinien zur Diagnose der Alzheimer-Erkrankung wird zwar darauf hingewiesen, dass sprachliche Defizite zu den Symptomen, auch den Frühsymptomen, der Erkrankung zählen und neuropsychologische Tests weiterhelfen. Linguistische Analysen spielen derzeit aber keine Rolle. Dies gilt auch für die aktuelle Demenz-Leitlinie deutscher Fachgesellschaften.
Sprachtherapien für Demenz-Kranke - nur wenige Angebote?
Unabhängig davon, ob aufwendige linguistische Analysen einen diagnostischen Nutzen bekommen könnten, ist eine Sprachtherapie für Demenz-Kranke sicher ein Gewinn. Allerdings gilt hier auch heute wohl noch, was vor wenigen Jahren die Patholinguistin Nicole Buller und Professor Martin Ptok beklagt haben: „Die derzeitigen Therapieangebote, insbesondere Sprachtherapie bei Patienten mit Demenz, sind nicht ausreichend. Bei den meisten Therapiekonzepten für das Krankheitsbild der Demenz findet sich selten ein Stichwort zum Thema Kommunikationstraining bzw. Sprachtherapie“, schrieben die Wissenschaftler von der MHH in einem Aufsatz zum Thema Sprache bei Demenz-Erkrankungen. Ähnlich formulieren es Wissenschaftler der Hochschule für Heilpädagogik Zürich, die, ausgehend von einem speziellen Projekt, eine Webseite zum Thema Sprache und Demenz erstellt haben: „Es gibt eine Reihe unterschiedlicher Angebote für demenzkranke Menschen. Einige davon werden irreführend als „Therapie" bezeichnet, obwohl es sich eher um Umweltarrangements oder allgemeinere Verhaltenstipps oder Aktivitätsangebote handelt. Angebote, die auf die Gesprächsfähigkeit, auf Lesen und Schreiben fokussieren, gibt es nur wenige.“
Auch Dr. Thomas Kunczik, Geschäftsführer der Hirnliga, bestätigt, dass Sprachtherapien nicht gerade im Mittelpunkt stehen, wenn es um die Therapie Demenzkranker geht. Als bezeichnend hierfür kann man die aktuelle S3-Leitlinie Demenz nennen: Aufgeführt werden zwar außer den medikamentösen Therapien die Licht-, Aroma, Kunst- und Muskiktherapie. Einen Hinweis auf Sprachtherapien sucht man jedoch vergeblich. Es gibt aber auch Lichtblicke: Beim Bundesverband für Logopädie räumt man dem Thema Sprache und Demenz einen nach eigenen Angaben großen Stellenwert ein; letztes Jahr ist sogar eine Projektgruppe dazu gegründet worden. Und Mitglieder des Verbandes wie Professor Jürgen Steiner von der Zürcher Hochschule für Heilpädagogik, der Berliner Psychiater Professor Hans Gutzmann und der Logopäde Thomas Brauer von der Universität Mainz haben dazu auch bereits „Standardwerke“ verfasst.
Sicher noch kein Standard bei Demenz-Kranken mit Sprachstörungen ist ein therapeutisches Verfahren, das seit einigen Jahren bei neurologisch-psychiatrischen Erkrankungen erprobt und auch schon angeboten wird: die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rtMS). Erst vor wenigen Wochen haben allerdings italienische Forscher über erste vorläufige Erfolge bei Alzheimer-Patienten mit Sprachstörungen berichtet. Schlussfolgerung der Wissenschaftler um Dr. Maria Cotelli: Die rtMs könnte - in Kombination mit anderen Therapien - für diese Patienten ein neuer Ansatz zur Behandlung sein.“