Vorehelicher Sex ist Standard, Scheidungen sind kein Stigma mehr, Verhütung ist einfach und potenzielle Bettpartner kann man via App lokalisieren. Es war also nie leichter, Sex zu haben. Dennoch tun es die Menschen laut einer Studie immer seltener.
In den letzten 50 Jahren hat sich nicht nur die Einstellung der Menschen zu Sex verändert. Neben der Akzeptanz des vorehelichen Geschlechtsverkehrs, Ehescheidungen sowie Homosexualität erleichtern auch neue Entwicklungen wie beispielsweise die Antibabypille den sexuellen Kontakt: Weder Frauen noch Männer müssen sich nun Gedanken um mögliche Folgen machen. Gleichzeitig vereinfachen mobile Dating-Apps wie beispielsweise Tinder das Lokalisieren von willigen Geschlechtspartnern. Beziehungskonzepte wie Polyamorie und offene Beziehungen gewinnen an Bedeutung. Zu diesem Ergebnis kam Amy Moors von der University of Michigan [Paywall], als sie anonyme Suchanfragen von Hundertausenden Usern der Google-Suchmaschine analysierte. Denn Begriffe, die mit alternativen Beziehungskonzepten zusammenhängen, wurden 2015 deutlich häufiger eingegeben als zehn Jahre früher.
Obwohl all diese Entwicklungen das „muntere Treiben“ vereinfachen, sind amerikanische Erwachsene heutzutage sexuell wenig aktiv: So hatte ein US-Bürger in den Jahren 1995 – 1999 pro Jahr durchschnittlich etwa 62 Mal Sex, 20 Jahre später (2010 – 2014) sind es nur noch 53 mal. Das sind 15 Prozent weniger Sex im Jahr – und das unabhängig von Region, Geschlecht, Hautfarbe oder Bildungsniveau. Dies ist das Ergebnis einer Untersuchung der Psychologieprofessorin Jean Twenge vom Departement of Psychology der San Diego State University. Die Daten für ihre Studie stammen aus der General Social Survey, eine standardisierte Befragung der amerikanischen Bevölkerung. Diese wird seit 1972 in den USA regelmäßig durchgeführt, seit etwa 1989 beinhaltet das Programm auch eine Frage dazu, wie oft man in den letzten zwölf Monaten Sex gehabt hatte. Die Antwortmöglichkeiten reichen von „0 = überhaupt nicht“ bis „6 = mehr als dreimal die Woche“. Über 26.700 Amerikaner haben seit diesem Jahr diese Frage beantwortet. Für die tatsächliche Sexhäufigkeit wurde die Angaben wie folgt bewertet: Bei der Antwortmöglichkeit 6 nahmen die Wissenschaftler an, dass der Befragte durchschnittlich 5 mal pro Woche Sex gehabt hatte und bewerteten diese mit 5 x 52 (Wochen) = 260 mal Sex im letzten Jahr. Die Antwortmöglichkeit 0 wurde mit 0 bewertet. Problematisch bei dieser Vorgehensweise ist, dass die Leute, die in den letzten zwölf Monaten sexuell sehr aktiv waren, die Werte „nach oben ziehen“.
Die Daten für diese Studie beruhen auf einer Bevölkerungsumfrage – damit hängt die Aussagekraft der Studie davon ab, wie wahrheitsgetreu die US-Bürger die Fragen beantwortet haben. Problematisch ist zudem, dass nirgends festgelegt wurde, was „Sex“ eigentlich ist: Darf man Masturbation mit bzw. ohne Partner, Oral- und Analverkehr dazuzählen oder ist wirklich nur der eigentliche Geschlechtsverkehr gemeint? Ab wann es sich für Befragte tatsächlich um Geschlechtsverkehr handelt, lässt sich nicht sagen. Es wäre beispielsweise möglich, dass verschiedene Generationen unterschiedliche Definitionen von Sex haben, die sich in der Beantwortung der Fragen widerspiegeln. Trend nicht nur in Amerika Diese Untersuchung gilt zwar nur für Amerika, allerdings stimmt das Ergebnis auch mit dem anderer Länder überein. Beispielsweise haben – laut einer Veröffentlichung der Australien National Survey of Sexual Activity aus dem Jahr 2014 – Menschen in heterosexuellen Beziehungen heutzutage durchschnittlich 1,5-mal in der Woche Sex. Zehn Jahre früher waren es noch etwa 1,8-mal. Einer im Jahr 2015 erschienenen Studie zufolge sind in Japan 46 Prozent der Frauen zwischen 16 und 24 Jahren und 25 Prozent der Männer gleichen Alters sexuellem Kontakt abgeneigt. Etwa 70 Prozent der Frauen zwischen 18 und 19 Jahren und 40 Prozent der 20- bis 24-jährigen sind noch Jungfrauen. In der Altersgruppe der 25- bis 29-jährigen hatten 30 Prozent und bei den 30- bis 34-jährigen immerhin 24 Prozent noch keinen Sex. Anders in Deutschland: Laut Untersuchung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist nämlich die Mehrzahl der 18- bis 25-Jährigen regelmäßig sexuell aktiv. Nur etwa jeder dritte hat gelegentlich Sex und nur sieben Prozent der Jugendlichen sind noch Jungfrauen. Ob jemand regelmäßig Sex habe, hänge davon ab, so die Bundeszentrale, ob er in einer festen Beziehung lebe. Eine andere Studie kommt – ähnlich wie die amerikanische Untersuchung – zu dem Ergebnis, dass die Deutschen heutzutage weniger sexuell aktiv sind als noch vor zehn oder 20 Jahren. Laut der Universität Leipzig und der Deutschen Versicherer hatten 1994 etwa 71 Prozent der Deutschen und 2005 etwa 74 Prozent in den zwölf Monaten vor der Befragung mindestens einmal Sex. 2015 waren es nur noch 67 Prozent.
Laut der Leipziger Studie hatten 2015 rund 30 Prozent der 18- bis 30-jährigen Singles im letzten Jahr Sex gehabt, dreimal bzw. doppelt so viele wie zehn Jahre früher (Männer: 10 Prozent; Frauen: 15 Prozent). „Das ist ein ganz neues Phänomen“, sagt der Leipziger Professor Elmar Brähler. Seiner Vermutung nach leben junge Leute heute ihre Gefühle stärker online aus. „Die Jungen konsumieren eher Sexualität im Internet und pflegen Freundschaften über soziale Medien, anstatt den tatsächlichen sexuellen Kontakt zu suchen", so der Medizinpsychologe in der Pressemitteilung. Ganz anders hingegen ist die Entwicklung bei den älteren Semestern. Die Zahl der 60- bis 70-jährigen Frauen, die im Jahr vor der Befragung sexuell aktiv gewesen waren, stieg von 31 Prozent (1994) auf 42 Prozent (2015). Grund hierfür sei laut der Sexologin Ann-Marlene Henning, dass Frauen heute „selbstbewusster, was ihre Sexualität angeht“ seien und länger körperlich fit blieben.
Auch der Konsum von Pornografie hat in den letzten Jahren zugenommen (Studie 1 [Paywall], Studie 2 [Paywall]). Einige Wissenschaftler sehen die Entwicklung eher kritisch. Michael Malcolm und George Naufal beispielsweise haben circa 1.500 Erwachsene zwischen 18 und 35 untersucht. Das Ergebnis: Diejenigen, die häufig im Internet surften bzw. Pornografie konsumierten, waren deutlich seltener verheiratet. Andere Wissenschaftler sind der Meinung, dass der Konsum von Pornografie sich positiv auf die Sexhäufigkeit auswirken könnte. Laut einer Studie aus dem Jahr 2015 [Paywall] der Concordia University Montreal und der Liberos LLC erhöhte 40-minütige Anschauen von Pornos zweimal die Woche nämlich die Libido. Wieder andere wie z. B. die Psychologieprofessorin Jean Twenge sehen keinen Zusammenhang zwischen sexueller Aktivität und dem regelmäßigen Konsum von Pornos fest.
Laut Twenge ist an dem wenigen Sex die geringere Eherate Schuld. Denn Verheiratete oder Menschen, die in „wilder Ehe“ zusammenleben, haben regelmäßiger Sex als Singles. In den letzten Jahren ist jedoch der Prozentsatz der Amerikaner zwischen 18 und 29, die ohne Partner leben, von 48 Prozent im Jahr 2005 auf 64 Prozent im Jahr 2014 angestiegen. Hinzu kommt, dass Verheiratete heutzutage deutlich weniger sexuell aktiv sind als noch vor der Jahrtausendwende. „In einer früheren Veröffentlichung haben wir herausgefunden, dass die Zufriedenheit der Menschen über 30 zwischen 2000 und 2014 abgenommen hat,“ so Twenge in einer Pressemitteilung. Dies könnte ein weiterer Grund für die Abnahme der sexuellen Aktivität sein, denn Menschen, die zufrieden sind und sich wohlfühlen, haben häufiger Sex. Dies belegen auch Studien. Ein Beispiel hierfür ist die Untersuchung australischer Wissenschaftler von der University of Adelaide. Dieser zufolge haben depressive Menschen ein geringeres sexuelles Verlangen und leiden häufiger an sexueller Dysfunktion. Neben sozialen Medien und geringeren Eheraten gibt es aber auch andere (nicht ganz ernst gemeinte) Erklärungsversuche. Im Guardian versucht ein Autor, mögliche Ursachen zu eruieren, warum wir es nicht mehr so oft tun wie vor 20 Jahren. Eine seiner seiner Thesen: Wenn Instagram Sexbilder löscht, warum also Sex haben, wenn man im Internet nicht mal einen Like dafür bekommt. Ähnlich seriös beleuchtet ein Autor der Süddeutschen Zeitung den Trend. Er vermutet, dass ein Lied Schuld an dem wenigen Sex sein könnte: „Der Niedergang, schreiben die Wissenschaftler, begannt statistisch im Jahr 2002. Die Nummer eins der Billboard-Jahrescharts war damals ‚How You Remind Me‘ von Nickelback. Kein Wunder, dass viele Menschen jeden Willen zur Fortpflanzung verloren, nachdem sie ein Jahr lang mit diesem Song beschallt wurden.“ Wie dem auch sei: Der wahre Grund für den Rückgang der Sexhäufigkeit ist derzeit unklar.