Nach Diskussionen um die Finanzierung hat das Versorgungsstrukturgesetz eine Hürde genommen: Grünes Licht kam jetzt auch vom Kabinett, im Herbst meldet sich das Parlament zu Wort. Aber können die Versorgungsziele erreicht werden?
Gerade noch mal gut gegangen: Kritiker sahen das Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung, kurz Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG), schon scheitern. Kurz vor dem Kabinettstermin hatte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) finanzielle Risiken bemängelt, ein Koalitionsstreit schien vorprogrammiert. Ihm fehlten genaue Zahlen, was das Maßnahmenpaket wirklich koste – und wie alles zu bezahlen sei. Auch witterte der Unionspolitiker einen Verstoß gegen die „goldenen Regeln“ des Koalitionsvertrags, die bei zusätzlichen Ausgaben immer eine Gegenfinanzierung vorsehen.
Kosten und Kompromisse
Jetzt herrscht wieder eitel Sonnenschein, das Kabinett stimmte zu und der Weg in Richtung Parlament und Bundesrat scheint geebnet zu sein. Ganz ohne Kompromisse hat Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) das jedoch nicht geschafft: Er akzeptierte zähneknirschend die Folgen des neuen Regelwerks für die gesetzlichen Krankenkassen bis 2014 evaluieren zu lassen. Auch konkretisierte sein Haus alle Zahlen: Die Rede ist von Mehrausgaben in Höhe von 200 Millionen Euro pro Jahr. Ab 2013 folgen weitere 120 Millionen pro Jahr für Vertragszahnärzte. Bahr habe nach eigenen Worten die Verantwortung, dass „die Kosten nicht weglaufen, dass aber auch die Ärzte nicht weglaufen.“ Den Vorwurf der Klientelpolitik entkräftete der Liberale – mit Verweis auf frühere Reformen. So habe die Anpassung der Honorare unter Ulla Schmidt (SPD) den niedergelassenen Ärzten vier Milliarden Euro eingebracht, jetzt nehme man nur 200 Millionen Euro in die Hand.
Besser…
Damit sollen unter anderem Anreize geschaffen werden, um in unterversorgten Gebieten zu arbeiten. Und das ist bitter nötig: Momentan stehen laut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung etwa 550 dringend notwendige Praxen leer, und bis 2020 gehen Schätzungen zufolge 7000 Hausärzte in den Ruhestand. Kollegen, die eine Praxis mitten im Nichts haben, erhalten bald ihr volles Honorar ohne Abstaffelung beim Regelleistungsvolumen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, haben Ärzte für das Geld, das nicht mehr gekürzt wird, schon Leistungen erbracht. Unter bestimmten Voraussetzungen können zudem Richtgrößen für Medikamente und Heilmittel überschritten werden. Praxen und Krankenhäuser will der Gesundheitspolitiker enger verzahnen, und Ärzte in Reha- bzw. Pflegeeinrichtung sollen künftig auch von außerhalb ihrem Versorgungsauftrag nachgehen können. Auch die Beratung vor den Folgen eines möglichen Regresses wird als unzureichend empfunden. Zahlreiche weitere Forderungen waren im Rahmen der DocCheck-Aktion „Bitten an Bahr“ eingegangen.
…oder schlechter?
Andererseits plant Daniel Bahr Maßnahmen gegen die Überversorgung in Großstädten, um die von Wolfgang Schäuble geforderten Einsparungen zu realisieren. So können Kassenärztliche Vereinigungen Kollegen mit Geld zur Rückgabe ihrer Kassenzulassung bewegen. Außerdem erhalten die KVen ein Vorkaufsrecht, sollte die Familie selbst kein Interesse an einer Praxisnachfolge haben. Das reicht Dr. Andreas Köhler, dem Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, aber nicht aus. Er forderte, „überflüssige Praxen“ sogar per Gesetz ankaufen zu lassen. Außerdem fehlen „Maßnahmen, um die teure und unnötige Überversorgung, die es in den meisten anderen Gebieten gerade im fachärztlichen Bereich gibt, abzubauen“, so Johann-Magnus von Stackelberg vom GKV-Spitzenverband.
Lob und Tadel
Vertreter der Ärzteschaft begrüßten das Gesetzespaket dennoch. „Hier wird endlich mal zukunftsorientierte Gesundheitspolitik gemacht“, lobte Dr. Frank Ulrich Montgomery, der Präsident der Bundesärztekammer. Man könne darüber streiten, ob der Gesetzesentwurf weit genug gehe, es sei aber ein „vernünftiger Ansatz“. Die Opposition ist da anderer Meinung: „Das Einzige, mit dem fest zu rechnen ist, sind höhere Honorare für Ärzte und steigende Kosten für die Versicherten“, ist sich die Gesundheitspolitikerin Marlies Volkmer (SPD) sicher. Und Martina Bunge von der „Linken“ wiederum befürchtet einen „Wettbewerb der Länder um die Ärzte“. Richtige Ansätze seien „nicht zu Ende gedacht“, etwa die Befristung ärztlicher Zulassungen in überversorgten Regionen.
Die Gemüter erhitzen sich vor allem an folgendem Passus: „Das Ergebnis der Evaluierungen wird bei der Festlegung der Höhe der Zahlungen des Bundes für den Sozialausgleich ab dem Jahr 2015 mindernd berücksichtigt, soweit sich aus diesem Ergebnis unter Berücksichtigung von Einspareffekten Mehrausgaben des Bundes für den Sozialausgleich ergeben. Der Anspruch des Mitglieds auf Sozialausgleich bleibt unberührt“, so eine Formulierung im Entwurf. Laut Bahr lasse sich daraus auf keinen Fall ableiten, dass Zuschläge für Ärzte auf die Versicherten abgewälzt würden. Gesundheitspolitiker der Opposition sehen darin jedoch einen großen Spielraum für mögliche Interpretationen. Bei diesem Gesetz habe „der Finanzminister das letzte Wort gehabt“, so Dr. Carola Reimann (SPD). Sie befürchtet, der Sozialausgleich werde damit ad absurdum geführt. Und die „Linke“ vermutet, dass Leistungen gekürzt würden, ließen sich Mehrausgaben nicht von den Kassen selbst auffangen.
Bleiben mal wieder die Ärzte: Der Griff in die Tasche von Kollegen ist mittlerweile zur traurigen Tradition geworden. Und deshalb sorgt der mancherorts angedachte Honorarabzug in überversorgten Gebieten für viel Ärger. Vor allem die CSU liebäugelt mit diesem Instrument. Max Straubinger etwa plant, das Thema bei der parlamentarischen Diskussion nach der Sitzungspause auf's Tapet zu bringen. Doch Daniel Bahr bremst: „Kein Arzt gibt seine Praxis in Berlin auf, in die er investiert hat, und verlegt sie in die Uckermark, nur weil er etwas vom Honorar abgezogen bekommen hat.“ Vielmehr setzt der Bundesgesundheitsminister auf eine flexible Bedarfsplanung, etwa durch besagten Ankauf frei werdender Kassenzulassungen.
Deine Daten – meine Daten
Heiß umkämpft ist nicht nur das Budget. Bei der Frage, wer Abrechnungsdaten für wissenschaftliche Zwecke nutzen darf, erhitzen sich die Gemüter. In den Kreis der Berechtigten gehören Hochschulen, der Deutsche Apothekerverband, der Gemeinsame Bundesausschuss, das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das DRG-Institut (InEK GmbH) sowie das AQUA-Institut. Damit möchten Gesundheitspolitiker die Versorgungsforschung weiter voran bringen, nicht zuletzt im eigenen Interesse. Ärztekammern bleiben außen vor, und so werde das eigentliche „Ziel verfehlt“, betont der Berliner Kammerchef Dr. Günther Jonitz. Erstaunlich, dass andererseits Selbsthilfegruppen Zugriff auf gewisse Routinedaten bekommen sollen – laut Experten umso kritischer, als Patientenverbände teilweise eng mit pharmazeutischen Herstellern zusammenarbeiten.
Das Thema der Datennutzung ist jedoch kein Einzelfall – Diskussionsbedarf besteht noch bei etlichen Punkten, und Oppositionspolitiker im Bundestag wetzen schon die Messer. Läuft dennoch alles nach Plan, soll das Gesetz zum 1. Januar 2012 gültig werden.