Ist noch mit bahnbrechenden Innovationen zu rechnen? Und sind die großen Konzerne für neue Strategien richtig aufgestellt? Darüber sprach DocCheck mit Prof. Dr. Jochen Maas und Dr. Heinz Riederer, Geschäftsführer bei Sanofi-Aventis.
Ungewisse Aussichten: In seinem „Arzneiverordnungs-Report“ bemängelte Professor Dr. Ulrich Schwabe, dass von 18 im letzten Jahr zugelassenen Präparaten nur fünf eine „innovative Struktur oder ein neuartiges Wirkprinzip mit therapeutischer Relevanz“ hätten. Doch laut Professor Dr. Jochen Maas, Geschäftsführer Forschung & Entwicklung bei Sanofi-Aventis, lassen sich Innovationen, die einen Durchbruch bei der Behandlung einer Krankheit bedeuten oder eine Therapie revolutionieren, nicht herzaubern. „Sonst würden wir das fortlaufend tun, und wir könnten uns auch viele unerquickliche Diskussionen über medizinische Innovationen sparen.“ Vielmehr sieht der Geschäftsführer Forschung & Entwicklung einen kontinuierlichen Prozess: „Berechtigterweise heißt es in der deutschen Sprache ja auch Fortschritt und nicht Fortsprung“, so Maas.
Wie tickt die Forschung?
Darin steckt letztlich auch die Erkenntnis, wie Wissenschaft generell funktioniert – nach Regeln des schrittweisen Erkenntnisgewinns und nur selten mit großen Sprüngen. Dennoch führen gerade historische Innovationen, die Studenten in Grundvorlesungen nahe gebracht werden, zu einem Zerrbild der modernen Arzneimittelforschung. Jochen Maas ist sich sicher: „Wenn die Gesellschaft Fortschritt will, muss sie daher auch schrittweise Verbesserungen angemessen wertschätzen und sollte sie nicht zerreden“.
Nicht das einzige Problem. „Es wird auch immer schwieriger, Pharmaka heutzutage zur Marktreife zu entwickeln.“ Etliche Innovationen scheitern schon im Vorfeld. Arsphenamin, Sulfonamide oder die ersten Penicilline: „Viele der großen Entdeckungen des letzten Jahrtausends, die Sie vielleicht vor Augen haben, würden heute vermutlich nicht mehr zugelassen, weil sie den – zu Recht – gestiegenen Sicherheitsanforderungen nicht mehr in vollem Umfang genügten“, gibt Jochen Maas zu bedenken. Dennoch sind auch heute noch angenehme Überraschungen drin, wie etwa kürzlich bei der EHEC-HUS-Epidemie. Mit Eculizumab stand plötzlich ein Arzneimittel zur Verfügung, das für diese Indikation gar nicht zugelassen war, sich dann aber als wirksam erwies und vielen Patienten das Leben gerettet hat. Maas: „Das alles bedeutet für uns, dass wir noch mehr Kreativität und Anstrengung aufwenden müssen, denn unbestritten ist der Bedarf an neuen Therapieoptionen weiterhin groß.“ Der überwiegende Teil aller Krankheiten sei auch heute nicht oder nicht gut genug behandelbar.
David gegen Goliath
Doch sind die großen Konzerne für die neuen Strategien auch richtig aufgestellt? Bereits heute werden viele Innovationen außerhalb der Labors bekannter „Big Player“ geboren. Maas: „Den Startups und Small Biotechs mangelt es aber an der Übersetzung einer Idee in ein marktfähiges Arzneimittel.“ Das liegt auf der Hand, hat doch die Industrie durch entsprechendes Know-how, aber auch durch finanzielle Ressourcen, um teure Studien durchzuführen, einen gewaltigen Vorsprung. Insofern muss klar zwischen Forschung einerseits und Entwicklung andererseits unterschieden werden. „Was wir brauchen, ist eine sinnvolle, enge Verzahnung, bei der jeder Partner seine Stärken einbringt und die zu einer Win-Win-Situation für Academia und Small Biotech auf der einen und Big Pharma auf der anderen Seite führt: mit dem wichtigsten, dem dritten „Win“ für die Patienten.“ Bei der Forschung sehe Sanofi in Netzwerken aus Universitäten und Industrie, von Krankenbett und Labor, die erfolgversprechendste Form.
Klasse statt Masse
In den letzten Jahren kamen neue Strategien der Arzneimitteltherapie: Versuchten Forscher mit den großen Blockbustern möglichst viele Patienten zu erreichen, setzen heute viele Firmen auf die personalisierte bzw. individualisierte Therapie. Bei bestimmten Indikationen ist die Methode schon weit fortgeschritten, zum Beispiel in der Onkologie: Viele Tumoren werden nicht mehr nach ihrer Lokalisation klassifiziert, sondern vielmehr nach ihrem genetischen Muster, dem Expressionsprofil. Bei anderen Indikationen steckt die Personalisierung noch in den Kinderschuhen, weitere Forschungsarbeiten sind erforderlich. Maas: „Bei Sanofi unternehmen wir große Anstrengungen, um die Behandlung von Diabetes weit stärker zu personalisieren und nicht alle Patienten nach definierten Schemata zu therapieren.“ Insgesamt sei, so der Geschäftsführer Forschung & Entwicklung, personalisierte Medizin in der Praxis momentan noch selten anzutreffen, aber auf jeden Fall die Perspektive der Zukunft. „Wir werden zu immer zielgerichteteren Therapien kommen müssen, das heißt auch immer besser werden, allen richtigen und keinen falschen Patienten eine Behandlung zukommen zu lassen.“ Dazu müssen die Forscher Diagnostika und Therapeutika gezielt kombinieren, um herauszufinden, welches Individuum auf welche Methode anspricht. Ein in anderer Hinsicht ehrgeiziges, aber attraktives Ziel, könnte die Erforschung von Impfstoffen gegen „Volkskrankheiten“ sein, etwa zur Hypertoniebehandlung.
Kostenbremse gleich Innovationsstopp?
Ist ein neues Präparat erst einmal auf dem Markt, melden sich Gesundheitsökonomen zu Wort. Das Dilemma: Pharmaka müssen bezahlbar bleiben, andererseits benötigen die forschenden Arzneimittelhersteller Gelder für neue Innovationen. In den ersten Monaten des laufenden Jahres sanken die Ausgaben für Arzneimittel zwar gegenüber den Vorjahren – und das trotz des steigenden Bedarfs aufgrund der demographischen Entwicklung. Neuordnungen im Gesundheitswesen haben hier schon ihre Wirkung gezeigt. „Unabhängig davon sollten die Partner im Gesundheitswesen künftig Qualität und Kosten einer Therapie in direkten, faktenbasierten Verhandlungen gemeinsam optimieren“, schlägt Dr. Heinz Riederer, Geschäftsführer Medizin & Gesundheitspolitik der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, vor. Und zwar im doppelten Sinne: „Die Partner gemeinsam und beide Aspekte, also Qualität und Kosten.“ Im letzten Terminus versteckt sich der tatsächliche materielle Aufwand der gesamten Behandlung, nicht nur die Preise einzelner Elemente einer Therapie wie etwa Pharmaka. Riederer: „Wir sind uns als Arzneimittelindustrie unserer Verantwortung bewusst und bereit, einen Beitrag zur nachhaltigen Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems zu leisten.“ Der Bevölkerung müsse aber auch klar sein, dass die Aufwendungen in einer alternden Gesellschaft mit hohen Gesundheitsansprüchen nicht sinken könnten.
Marketing: richtig wichtig
Doch mit Forschung und Zulassung ist es nicht getan. „Natürlich gibt ein Arzneimittelunternehmen, wie jede andere Firma auch, Geld fürs Marketing aus“, weiß Riederer. Aber wenn zum Beispiel Ergebnisse aus Marktforschung und -analyse zeigen, dass sowohl die Bedürfnisse von Patienten als auch die Zielsetzung der Kostenträger in verschiedenen Ländern und Regionen stark unterschiedlich sind, tragen entsprechende Budgets signifikant zum Wohl der Patienten bei und sind sehr viel mehr als Werbung im Eigeninteresse des Unternehmens. Dann müssen je nach Region andere Produkte oder Produktformen zum Zuge kommen. „Es werden auch viele Ausgaben gerne dem Marketing zugeordnet, obwohl sie dafür verwendet werden, die Anwendung von Arzneimitteln zielgerichteter und sicherer zu machen, wie etwa die Entwicklungsarbeit nach der Zulassung oder die Aufklärung der Anwender.“ Arzneimittel sind eben Produkte der besonderen Art, und das gilt nicht nur für Apotheken, sondern auch für die pharmazeutischen Hersteller: „Wir verkaufen weder Chemikalien noch Zuckerbonbons, sondern wir stellen für Ärzte als auch Patienten erklärungsbedürftige, komplizierte Produkte aus „Hardware und Software“ bereit“, gibt Riederer zu bedenken. Die Dienstleistung um ein Arzneimittel habe einen mindestens ebenso hohen Stellenwert wie seine Herstellung.
Wagenburg aus Pharmafirmen
In der Vergangenheit traten gerade beim Thema Kommunikation ernsthafte Schwierigkeiten auf. Maas: „Bis in die 90er Jahre hinein hatten wir diesbezüglich bei den großen Pharmakonzernen eine Art Wagenburgmentalität. Das ist Gott sei Dank vorbei, reicht aber noch nicht.“ Um verstanden zu werden, habe man auch über Forschung und Entwicklung noch viel mehr aufzuklären. Und das erfordert unter den Wissenschaftlern oder Managern ein neues Rollenverständnis: „Wir müssen glaubwürdig und nachvollziehbar erklären, welchen Nutzen unsere Medikamente haben, wie sie sicher angewendet werden können und dies mit Daten und Fakten belegen“, unterstreicht Riederer. Deshalb haben die großen Firmen in den letzten Jahrzehnten zusammen mit Wissenschaft und Behörden ein System der präklinischen und klinischen Entwicklung aufgebaut. „Das funktioniert sehr gut und hat dazu geführt, dass Risiken minimiert wurden“, ist sich Riederer sicher. Auf Null lassen sich Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen bekanntlich nie reduzieren.
Trotz aller Kommunikation ist die Führung von Patienten keine Aufgabe der Industrie, sondern liegt ganz klar bei Arzt und Apotheker, und damit auch die Beratung zu verschreibungspflichtigen Arzneimitteln. Riederer: „Was wir tun können ist, als einer der Partner im Gesundheitswesen dazu beizutragen, das Bewusstsein durch geeignete sachliche Aufklärung zu verbessern.“