Der Fachausdruck für eine Strategie bei der Arzneientwicklung nennt sich "Drug Repurposing" - gesucht wird mit bekannten Wirkstoffen nach neuen Indikationen. Dass etwa ein Migränemittel gegen Reizdarm wirkt, ist ein überraschendes Ergebnis.
Es war eher ein Zufallsbefund, der Thalidomid zu seiner Auferstehung aus der Asche begrabener Arzneimittel-Hoffnungen verhalf. Als Schlaf- und Beruhigungsmittel entwickelt und nach den furchtbaren Nebenwirkungen als „Contergan“ wieder vom Markt genommen, spielt der Wirkstoff nun eine wichtige Rolle bei Patienten mit multiplem Myelom, aber auch bei Leprakranken. Auch die Karriere von Sildenafil (Viagra®) als unverzichtbares Hilfsmittel für den Mann mit Potenzschwäche war bis hin zu Phase-I Studien als Mittel gegen Hypertonie und Angina pectoris geplant, bevor alles ganz anders kam.
Systematische Suche nach neuen Einsatzmöglichkeiten
Arzneimittel, die kurz vor der Zulassung scheitern, verbrennen für die Entwickler viel Geld. Manchmal liegt aber auch in der anfangs unerwünschten Nebenwirkung eine zweite Karrierechance für die vielbeforschte Substanz. Das gilt auch für bereits etablierte und zugelassene Arzneien. Wenn sie für einen anderen Einsatzzweck ebenso erfolgreich sind, kostet die Neuausrichtung nur einen Bruchteil einer Neuentwicklung. „Drug Repurposing“ heißt das Zauberwort. In Zukunft soll nicht mehr der Zufall über einen Quereinsteiger bei neuen Heilmitteln entscheiden, sondern systematisches Screening.
Pfizer hat dazu eine eigene Entwicklungsabteilung aufgebaut. Die „Indication Discovery Unit“ nimmt sich Wirkstoffe mit bekanntem Sicherheitsprofil vor und sucht nach neuen Anwendungsmöglichkeiten. Das muss nicht unbedingt ausschließlich im eigenen Hause geschehen. Eine Zusammenarbeit mit der Washington University in St. Louis erlaubt Mitgliedern der medizinischen Fakultät Einblick in die Daten von rund einhundert Pfizer-Produkten. Auf dieser Basis können die akademischen Forscher der Firma Vorschläge zu präklinischen, aber auch klinischen Studien machen. Das Bündnis macht sich inzwischen bezahlt: Ein Wirkstoff gegen nosokomiale Infektionen, der nichts mit dem Muster klassischer Antibiotika zu tun hat, befindet sich schon in der Erprobung am Patienten. Auch andere Firmen haben inzwischen eigene „Repurposing“-Strategieabteilungen wie zum Beispiel Bayer‘s „Common Mechanisms Research Group“.
Aus alt mach neu
Wie gräbt man am besten aus den großen Datenbanken der Pharmaindustrie zu erfolgreichen wie erfolglosen Verbindungen neue Schätze aus? Dazu trafen sich Anfang April dieses Jahres rund 80 Repräsentanten von Industrie, Regierung und akademischer Forschung, um über gemeinsame Strategien - möglichst in Zusammenarbeit - zu beraten. Denn für kleinere Unternehmen sind die Datenspeicher mit den wichtigen Informationen einfach zu groß. „Wenn wir unsere Kräfte bündeln und zusammenarbeiten,“ so berichtet Amy Patterson, Direktorin für Wissenschaftspolitik an der amerikanischen Gesundheitsbehörde NIH „können wir das Risiko verteilen und zu einer Vereinbarung kommen, die eine Win-win-Situation für alle Seiten ist.“
Angst vor Verlust von Know-how und Reputation
Ideen, wie so etwas funktionieren könnte, gibt es bereits: So könnten die Firmen die Daten zu nichtpatentierten Produkten in einen gemeinsamen Pool werfen. Daraus dürfen sich dann investitionsbereite Unternehmen bedienen. Auch bei Produkten mit Patentschutz sollen gemeinsame Lizenzvereinbarungen mit entsprechenden Partnern zu neuen Möglichkeiten für getestete und als sicher befundene Arzneien führen. Schließlich hoffen non-profit-Forschungsinstitute auf Spenden „aufgegebener“ Produkte, um sie für neue Einsatzzwecke zu testen.
Ganz einfach dürfte der Weg zu den wiedererweckten Archivschätzen nicht sein. Denn an den Daten zu erfolglosen, aber auch erfolgreichen Verbindungen hängt auch der Ruf der Firma. Wem gehören die Entwicklungsdaten bei alten Arzneien mit neuem Verwendungszweck? Umgekehrt ist die Angst groß, beim Schürfen auf unveröffentlichte und unliebsame Informationen von relevanten Studien zu stoßen. Von Pfizer, AstraZeneca oder Novartis stand dem Autor Asher Mullard von „Nature Reviews Drug Discovery“ für detaillierte Nachfragen nach dem Meeting niemand zur Verfügung.
Schürfen in der Genaktivierungs-Datenbank
Zwei taufrische Veröffentlichungen in „Science Translational Medicine“, zeigen aber, wie das Drug Repurposing“ in der Praxis aussehen könnte. Beide Arbeiten stammen aus der Gruppe von Atul Butte von der amerikanischen Stanford University. Buttes Team machte sich die Hypothese zu eigen, dass Krankheit und entsprechender Wirkstoff gegenläufige Steuerungsmechanismen im Körper bewirken. „Wenn ein Mittel ein Genaktivierungsmuster aufweist, das sich umgekehrt wie eine Krankheit verhält“, erklärt Butte, „so könnte dieser Wirkstoff dort eine therapeutische Wirkung haben.“ Die Wissenschaftler nutzten daher die entsprechenden öffentlichen Datenbanken von rund 750.000 Analysen zu spezifischen Aktivierung von Genen und pickten sich die Daten aus 164 Wirkstoffen und 100 verschiedenen Krankheiten heraus.
Für das Reizdarm-Syndrom zeigte die Software zwei wichtige Verbindungen auf: Zum einen Prednisolon, ein bereits bekanntes Kortikosteroid gegen die Darmentzündung, und Topiramat, ein Wirkstoff gegen Epilepsie und Migräne. Dass der Computer tatsächlich brauchbare Ergebnisse lieferte, bewies das Reizdarm-Rattenmodell. Der Überraschungskandidat verringerte tatsächlich die Schäden im entzündeten Darm. Ebenso überraschend wie Topiramat war die Wirkung des Antihistaminikums Cimetidin gegen Lungenkrebs. Sowohl gegen Zelllinien als auch im Tiermodell hinderte der „alte“ Bekannte aus den sechziger Jahren Krebszellen am Wachsen.
Warnung vor Off-label-Use
So viel versprechend die Ergebnisse unerwarteter „Nebenwirkungen“ gegen ganz andersartige Ziele sind, so warnt Butte davor, die Daten gleich in die Arztpraxis zu übertragen. Sie seien kein Freifahrtschein für die Selbstmedikation bei Krankheiten, bei denen andere Mittel nicht helfen oder zu teuer sind. Auch wenn die Sicherheits-Überprüfung beider Wirkstoffe inzwischen auch den langjährigen Praxistest bestanden hat, so müssen doch klinische Versuche die Wirkung bei den neuen Angriffszielen bestätigen.
Die Analyse des Genprofils ist wohl nur ein Weg zu neuen Anwendungen für erfolgreiche, aber auch gescheiterte Arzneimittel. Ein anderer ist die jahrelange Beobachtung von Toxizität und Nebenwirkungen, die für den neuen „Job“ vielleicht gerade passen. In den Gefriertruhen der Pharmafirmen und Forschungsinstituten, aber vor allem in Aktenschränken und auf Computerfestplatten lagern wahrscheinlich noch viele unentdeckte Schätze. Auch mit begrenztem Budget, mit der Bereitschaft zur Zusammenarbeit und mit Kreativität bei der Testentwicklung ließen sich wohl viele Therapielücken gerade bei vernachlässigten Leiden schließen.