Als es für andere Jungs nur das Thema Mädchen gab, blieb Jan außen vor. Das Verlangen nach Sex existiert bei ihm nicht. Jan ist asexuell. Oft fühlen sich Asexuelle unverstanden, ihre Orientierung wird pathologisiert. Sexualforscher fordern ein Umdenken.
„Als ich in die Pubertät kam, hatten meine Kumpels nur ein Thema, nämlich Mädchen“, erinnert sich Jan* (26). „Mich hat das nie interessiert, auch Erotik oder Sex nicht.“ Damals machte sich Jan wenig Gedanken, er hielt sich für einen Spätzünder. Doch über Jahre hinweg änderte sich nichts. Egal, ob für Männer oder Frauen – das Begehren blieb aus. Über solche Themen spricht niemand gern. Jan gab seine Fragen bei Google ein und stieß auf einen Begriff, den er zuvor noch nie gehört hatte: asexuell. DocCheck lernte ihn über ein Forum kennen und durfte Fragen stellen.
Für Jan waren damals viele Erkenntnisse neu. Heute weiß er, dass Asexualität eine eigene Identität ist, wie Hetero-, Homo- oder Bisexualität. Doch viele Menschen würden darin ein Krankheitsbild sehen, kritisiert er. „Asexualität hat nichts mit Ekel oder einer Abneigung gegen Sex zu tun, sondern bedeutet lediglich, dass kein Verlangen nach sexueller Interaktion vorhanden ist“, erklären Experten beim Asexual Visibility and Education Network (AVEN). Ziel des Netzwerks ist es, mehr öffentliche Akzeptanz zu schaffen. Gleichzeitig sollen „Ass“, wie sich Asexuelle selbst nennen, bessere Möglichkeiten zum Austausch haben. Das Wort „Asexual“ fängt, englisch ausgesprochen, genauso an wie „ace“ (die Spielkarte Ass) an. So ist diese Abkürzung entstanden. Auch „AktivistA“, der Verein zur Sichtbarmachung von Asexualität, unterstützt Menschen wie Jan. Ärzte betrachten das Thema folgendermaßen: Laut Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) ist jede Selbstidentifikation als Asexueller explizit ein Ausschlussgrund für die Diagnose einer sexuellen Appetenzstörung. Anthony Bogaert, ein Psychologe und Sexualforscher an der kanadischen Brock University, spricht zwar von „theoretischen Überlappungen“ mit sexuellen Appetenzstörungen. Zur Abgrenzung führt er jedoch mehrere Argumente an. „Dass eine Minderheit betroffen ist, lässt keine Rückschlüsse auf pathologische Verhaltensweisen zu“, schreibt er. Schließlich seien Menschen mit homosexueller Neigung, gemessen am heterosexuellen Lebensmodell, auch in der Unterzahl. Außerdem würden Menschen, die sich selbst als asexuell einstuften, deshalb nicht unbedingt leiden. Lori A. Brotto von der University of British Columbia, Vancouver, zeigte dies zumindest im Rahmen einer kleinen Studie. Sie befragte 54 asexuelle Männer und 133 asexuelle Frauen online zu verschiedenen Aspekten. Die sexuelle Reaktion war verglichen mit nicht asexuellen Personen zwar niedriger, aber dies wurde nicht als belastend wahrgenommen. Bei zwischenmenschlichen Interaktionen fand Brotto keine Auffälligkeiten. Generell ist die Datenlage aber dünn.
Das zeigt sich auch bei unvermeidlichen Klassifikationen. Jan hat in Foren gelernt, dass es nicht nur um Schwarz oder Weiß geht, sondern auch im wahrsten Sinn des Wortes um Graustufen. „Asexualität ist wahrscheinlich genauso komplex wie Sexualität“, lautet seine Einschätzung. Es gibt nicht nur Asexuelle, sondern auch Gray-Asexuelle. Hinzu kommen Aromantische oder Gray-Aromantische. Was bedeuten die Begriffe?
Asexualität steht per se in keinem Zusammenhang mit Aromantik, da viele asexuelle Menschen sich auch romantische Beziehungen wünschen und dabei die romantische von der sexuellen Orientierung trennen. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Aspekte. Jan bestätigt: „Ich kann mir eine Beziehung vorstellen, aber eben nicht mit der normalen Körperlichkeit.“ Er hatte während der Pubertät zwar Sex mit einer Frau, aber keine Beziehung. Für ihn ist Asexualität kein Defizit, aber die Suche nach verständnisvollen Menschen gestaltet sich schwierig. Diese Komplexität nimmt eine Bloggerin unter dem Pseudonym „Handyfeuerzeug“ auf die Schippe. Sie hat eine Art Regelwerk veröffentlicht, um „wirklich asexuell zu sein“ und spielt mit Vorurteilen vieler Menschen:
Bogaert ergänzt aus wissenschaftlichem Blickwinkel: „Eine signifikante Zahl an asexuellen Menschen masturbiert aus eigenem Antrieb“, berichtet er. „Doch nur die wenigsten würden mit nicht asexuellen Partnern schlafen, um eine Beziehung im klassischen Sinne zu führen.“ Asexuelle wie Jan empfinden ihre Orientierung einfach als normal – ähnlich wie die Homo- oder Heterosexualität. Zum Arzt ist Jan deshalb nie gegangen. Viel wichtiger sind für ihn Möglichkeiten, sich mit anderen Menschen auszutauschen. Neben Online-Foren gibt es mittlerweile auch regionale Stammtische. Jan selbst wünscht sich von Ärzten, „Asexualität nicht als Krankheit zu sehen“ und „Menschen – eben nicht Patienten – Kontakte zu vermitteln“. Dadurch lasse sich ein möglicherweise vorhandener Leidensdruck am besten auffangen.
Wie viele Menschen tatsächlich asexuell sind, lässt sich schwer abschätzen. Die erste relevante und auch heute noch oft zitierte Publikation erschien im Jahr 2004. Damals befragte Bogaert mehr als 18.000 Einwohner Großbritanniens nach ihren Präferenzen. Von ihnen stimmten 195 (ein Prozent) der Aussage zu: „Ich habe mich noch nie von einem anderen Menschen sexuell angezogen gefühlt.“ Später kamen Forscher ebenfalls für Großbritannien nur noch auf 0,4 Prozent. Aus Neuseeland (1,8 Prozent) oder Finnland (Frauen 3,3 Prozent, Männer 1,5 Prozent) kommen weitere Zahlen. Bogaert bewertet den Wert von einem Prozent deshalb als „Arbeitshypothese“.
Dabei handelt es sich um kein Phänomen unserer Zeiten. Aufgrund biographischer Angaben waren der Erfinder Nikola Tesla (1856 bis 1943) und der Schriftsteller Hans Christian Andersen (1805 bis 1875) nach heutigem Ermessen recht wahrscheinlich asexuell. Gesellschaftliche Zwänge, wie sie der britische Schriftsteller Ian Russell McEwan in seinem Roman seinem Roman „Am Strand“ beschrieben hat, gelten heute kaum noch. Asexuelle demonstrieren in London, um anderen Menschen die Augen zu öffnen. © Tom Morris / Wikimedia Commons Die Handlung spielt im Jahr 1962. Edward Mayhew und Florence Ponting verbringen ihre Flitterwochen in Dorset. Während der Hochzeitsnacht wird dem Leser klar, dass Ponting asexuell veranlagt ist. Sie flüchtet aus dem Hotel, und ihr Ehemann reagiert mit Unverständnis. Die „Verweigerung des ehelichen Verkehrs“ galt damals noch als Scheidungsgrund. In Deuschland sind derartige Begriffe seit 1977 zwar aus dem Familienrecht verschwunden. Im Unterschied zur Homosexualität wissen viele Menschen bis heute nicht, was es mit Asexualität auf sich hat. Deshalb gehen Menschen weltweit für Aufklärung auf die Straße. Jan tröstet das nur bedingt. Er spürt zwar kein Begehren im eigentlichen Sinne, wünscht sich aber trotzdem eine Partnerschaft. Seine Suche geht weiter. *Name auf Wunsch geändert