Die Kachexie ist eine bekannte lebensgefährliche Komplikation bei Krebs. Bei sehr starkem Gewichts- und Muskelverlust, sind Therapien oft nicht mehr erfolgreich und nur noch palliative Maßnahmen sinnvoll. Umso wichtiger sind Vorbeugung und frühzeitige Intervention.
Nach Angaben der Deutschen Krebsgesellschaft leiden 40 Prozent der Krebskranken unter einer Anorexie, 46 Prozent unter Geschmacksveränderungen, 60 Prozent unter Völlegefühl, 40–60 Prozent unter vorzeitigem Sättigungsgefühl, 41 Prozent unter Mundtrockenheit, fast ebenso viele unter Übelkeit und etwa jeder vierte Patient unter Erbrechen. Alles Gründe dafür, dass Tumor-Patienten weniger essen als erforderlich und daher Gewicht verlieren, womit das Risiko für eine Kachexie steigt. Die Kachexie ist zwar schon seit langem als Komplikation von Krebserkrankungen bekannt. Auch geläufig ist, dass sie mit einer verminderten physischen Leistungsfähigkeit einhergeht, ebenso mit einer schlechten Verträglichkeit der Tumortherapien und einer zusätzlich herabgesetzten Lebenserwartung.
Bis zu 80 Prozent der Patienten mit fortgeschrittener Tumorerkrankung können betroffen sein, 20 bis 30 Prozent von ihnen sterben an der Kachexie (wobei es hier kaum möglich ist, exakte Zahlen zu ermitteln, da klinische Studien bei den betroffenen Patienten kaum möglich sind). Trotz ihrer Bedeutung werde die Kachexie zu wenig berücksichtigt oder ihr kaum aktiv entgegengewirkt, klagt ein internationales Experten-Team, das gerade ein Konsens-Papier zur Definition und Klassifikation der Tumor-Kachexie veröffentlicht hat. Und da in einem sehr fortgeschrittenen Stadium (refraktäre Kachexie) meist nur noch palliative Maßnahmen sinnvoll seien, sei es notwendig, schon vor oder zu Beginn der Kachexie, im Stadium der sogenannten Prä-Kachexie, zu intervenieren. Hinweise hierauf können Appetitlosigkeit und ein gestörter Glukosestoffwechsel sein, die noch vor einem Gewichtsverlust (unter 5 Prozent) auftreten. Das Risiko für ein Voranschreiten hängt von mehreren Faktoren ab, etwa dem Tumor-Typ und - Stadium, dem Vorhandensein einer systemischen Entzündung, der Nahrungsaufnahme und dem Wirken der Therapie. Von einer Kachexie wird nach Angaben der Krebs-Spezialisten dann gesprochen, wenn
Im Stadium der refraktären Kachexie sind Therapien wirkungslos: Die Erkrankung ist sehr weit vorangeschritten, rasch progredient und reagiert zum Beispiel nicht mehr auf Chemotherapien; der Stoffwechsel ist katabol, die Lebenserwartung geringer als drei Monate. Die Risiken und die Belastungen einer künstlichen Ernährung sind in diesem Stadium für die Patienten größer als der Nutzen, so dass sich darauf konzentriert wird, Komplikationen der Kachexie zu verhindern und Symptome zu mildern.
Ernährungs-Kontrolle: ein Muss bei jedem Tumor-Kranken
Aus all dem folgt, dass schon mit Beginn der Tumordiagnose auf die Gefahr einer Kachexie-Entwicklung geachtet und Prophylaxe betrieben werden sollte. Ernährungs- und Stoffwechselsituation seien bei „prinzipiell allen Tumor-Patienten“ regelmäßig und gezielt zu kontrollieren, erklärt unter anderen der Strahlenonkologe Professor Irenäus Adamietz von der Ruhruniversität Bochum. Das gilt nicht allein für Patienten mit gastrointestinalen oder Kopf-Hals-Tumoren, bei denen es offensichtlich ist, dass die Ernährung sehr schwierig sein kann. Das gilt für alle Tumor-Patienten, da allein schon die Therapie die Ernährung beeinträchtigen kann, etwa indem der Appetit vermindert wird oder Schleimhautenzündungen induziert werden, die eine Nahrungsaufnahme zu einer wahren Tortur machen können. Eine wichtige Hilfe kann dabei das Führen eines Ernährungs-Tagesbuches sein, in dem aufgeführt wird, wie sich ein Patient ernährt, wie körperlich aktiv er ist und ob er erbricht oder wegen Übelkeit keinen Appetit hat. Generell gilt, dass Krebs-Patienten so lange wie möglich sich ganz normal, ausgewogen und vielseitig ernähren sollten. Selbstverständlich spielt hier auch die Art des Tumors eine Rolle.
Mit Nachdruck warnen Krebs-Experten, etwa die Spezialisten vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ), vor so genannten Krebs-Diäten, die zwar nicht unbedingt alle schädlich seien, aber doch oft mehr versprächen, als sie halten könnten - etwa Tumorrezidiven vorzubeugen. Die Meinungen hierüber gehen allerdings - wie bei fast allen nicht-schulmedizinischen Maßnahmen - weit auseinander. Auch Nahrungsergänzungsmittel seien, so das DKFZ, nach Ansicht vieler Experten bei ausgewogener Ernährung vermutlich nicht notwendig. Gleichwohl gebe es „spezielle Risikogruppen, bei denen von einer unzureichenden Zufuhr bzw. auch einem erhöhten Bedarf (an Mikronährstoffen, Anm. der Redaktion) bei Vorliegen bestimmter Komorbiditäten ausgegangen werden kann“, schreibt Adamietz in der Zeitschrift „Der Onkologe“. Dies gelte zum Beispiel für alte Tumor-Patienten oder auch für alkoholkranke Krebs-Patienten.
Sport: eine wichtige „Therapiesäule“
Einen großen Stellenwert hat inzwischen auch Sport, durch den Krebs-Patienten nicht allein Selbstvertrauen und Lebensqualität steigern, sondern auch Muskelmasse aufbauen können. Empfohlen wird heute zumeist eine Kombination von Ausdauersport mit Krafttraining: Hierdurch könne es zu einer Verminderung des durch das Karzinom ausgelösten Muskelabbaus kommen und auch die Muskelfunktion verbessert werden, sagt Adamietz. Klinisch bedeute dies zum Beispiel, dass körperliche Aktivitäten, etwa das Tragen eines Koffers oder Treppensteigen, weniger anstrengend sind. Selbstverständlich sei bei Tumor-Patienten mit erhöhter Blutungsneigung, zum Beispiel durch eine Thrombopenie, auf das Verletzungsrisiko beim Sport zu achten, erklärt der Radioonkologe. Und generell gilt gerade bei Krebskranken, dass stets eine individuelle Beratung und Rücksprache mit dem behandelnden Arzt notwendig ist. Vor allem Patienten mit Tumoren, die in den Knochen metastasieren können, ist laut DKFZ dringend zu raten, erst mit ihrem Arzt und Onkologen zu reden, bevor sie etwa mit einem Hantel-Training beginnen.
Im Fokus der Forschung: Myostatin
Hoffnungen setzen Onkologen und Patienten selbstverständlich auch auf neue pharmakologische Optionen, mit denen gezielt dem Muskelabbau entgegengewirkt werden kann. Im Fokus der Forschung steht seit einiger Zeit außer Wachstumsfaktoren wie IGF-1 oder dem appetitstimulierenden Hormon Ghrelin das körpereigene Eiweiß Myostatin, das den Muskelaufbau hemmt. Wird Myostatin blockiert, wird diesem Prozess entgegengewirkt. In Tierexperimenten ist dies einem Team von US-Forschern des kalifornischen Unternehmens Amgen auch schon gelungen, und zwar mit einem löslichen Aktivin-A-Rezeptor, der injiziert wird, eine Bindung mit Myostatin eingeht und so verhindert, dass Myostatin sich an seinen physiologischen Rezeptor bindet. Im Tierexperiment gelang es damit, innerhalb von zwei Wochen die Muskelmasse von Mäusen, denen zuvor Krebszellen implantiert worden waren, um rund 25 Prozent zu steigern, wodurch auch die Lebenszeit der Tiere verlängert wurde. Alle unbehandelten Tiere waren nach 40 Tagen tot. Von den behandelten Mäusen hätten nach der selben Zeit dagegen noch mehr als die Hälfte gelebt, berichteten die Forscher in der Zeitschrift „Cell“. Ob dies bei Menschen ebenso funktioniert, ist allerdings noch unbewiesen. Immerhin hat Amgen mit AMG 745 bereits einen Myostatin-Blocker in der klinischen Entwicklung (Phase 1, eine Phase-2-Studie wurde allerdings abgebrochen). Einen ähnlichen löslichen Aktivin-A-Rezeptor (ACE-031) hat auch das US-Unternehmen Acceleron in der Pipeline. Eine erste experimentelle Studie ist hierzu im September im „Journal of Applied Physiology“ erschienen. Über positive Resultate einer klinischen Phase-1-Studie hat das Unternehmen Mitte Oktober 2010 in einer Pressemitteilung berichtet. Ein weiterer Ansatz ist die pharmakologische Hemmung einer speziellen Kinase mit einem so genannten „ERK-Hemmstoff“. Tierexperimentelle Daten hierzu sind im letzten Oktober in der Fachzeitschrift „PLoSOne“ publiziert worden.
Ein ganz neuer Ansatz: fettspaltende Enzyme
Erst vor wenigen Tagen haben darüber hinaus Grazer Wissenschaftler über eine Entdeckung in der „Science“ berichtet, die für die Behandlung von Tumor-Kranken mit Kachexie von enormer Bedeutung sein könnte. Im Tierexperiment fanden die Forscher um den Studenten Suman Kumar Das und die Professoren Gerald Höfler und Rudolf Zechner heraus, dass tumor-kranke Mäuse dann weder Fett- noch Muskelgewebe verlieren, wenn ihnen aufgrund einer Genmanipulation die fettspaltenden Enzyme ATGL (Adipose Triglyceride Lipase) und HSL (Hormon-sensitive Lipase) fehlen. Die ATGL ist ein Enzym, über das zum Beispiel Insulin die Lipolyse unterdrückt. Da bei Krebs-Kranken mit Kachexie die Aktivität dieser Enzyme gesteigert ist, hoffen die Forscher nun, durch eine pharmakologische Blockade dieser Enzyme die Entwicklung einer Kachexie bei Tumor-Kranken verhindern oder bremsen zu können. „Theoretisch könnte man versuchen, Kachexie durch Blockierung einzelner Signalproteine (so genannte Zytokine) zu verhindern“, wird Höfler in einer Mitteilung der Universität Graz zitiert. „Das Verlockende an unserem Modell ist, dass wir durch Hemmung der fettspaltenden Enzyme am zentralen Punkt ansetzen würden“, erläutert der Leiter des Instituts für Pathologie.
Das alles ist natürlich noch Forschung, deren Ergebnisse selbst bei optimalem Verlauf erst in einigen Jahren den Patienten zugute kommen könnten. Schon verfügbar dagegen ist - neben anderen Nahrungsergänzungsmitteln - Fischöl. Und da haben erst vor wenigen Monaten Wissenschaftler in der Zeitschrift „Cancer“ berichtet, dass es ihnen gelungen sei, mit Fischöl-Kapseln den Verlust an Gewicht und Muskelmasse bei Patienten mit nicht-kleinzelligem Bronchial-Karzinom aufzuhalten. Außerdem soll sich auch die Ansprechrate auf die Chemotherapie verbessert haben. Aber auch diese Studiendaten sind noch kein Beweis dafür, dass Fischöl-Präparate geeignet sind, um bei Tumorkranken mit Kachexie wirklich zu helfen. Nur 40 Patienten haben an der Studie in „Cancer“ teilgenommen, nur 16 von ihnen erhielten Fischöl zusätzlich zur Standardtherapie. Die Autoren selbst schreiben daher zu Recht, dass Fischöl-Präparate vielleicht helfen, dies aber nicht gesichert sei. Und vielleicht wäre ein schmackhaft zubereiteter Fisch, der reich ist an Omega-3-Fettsäuren, ohnehin die bessere Option.
Diese Thema wurde vorgeschlagen von unserem Leser Dr. med. Knud Gastmeier.