Körperliche Inaktivität ist bekanntlich ungesund, Aktivität dagegen lebensverlängernd. Es muss aber keineswegs Sport sein. Viel ist angeblich schon gewonnen, wenn exzessives Sitzen vermieden wird. Denn Sitzen an sich scheint richtig lebensgefährlich zu sein.
Körperliche Inktivität fördert Bluthochdruck, Diabetes, Übergewicht sowie eine nicht-alkoholische Fettleber - und damit eben eine lebensbedrohliche Atherosklerose der Herz- und Hirngefäße. Insofern wundert es kaum, wenn der US-Endokrinologe Professor James Levine von der „Mayo-Klinik“ in Rochester sagt: „Sitzen ist eine geradezu tödliche Tätigkeit.“ Levine beschäftigt sich seit Jahren mit den Themen Übergewicht, Stoffwechsel und Inaktivität. Zu einer der Kernfragen seiner Forschung gehört zum Beispiel die, warum trotz identischer Kalorienaufnahme und (scheinbar) gleicher körperlicher Aktivität manche Menschen immer dicker werden, andere jedoch gertenschlank bleiben. Eine der Haupterkenntnisse, die Levine in seinen Untersuchungen gewonnen hat, ist etwa die, dass Menschen, die schlank bleiben, sich unbewusst mehr bewegen als jene, die dazu neigen, dick zu werden. Ergeben haben dies zum Beispiel Untersuchungen, in denen die Probanden spezielle Wäsche mit Sensoren trugen, die selbst die geringsten Bewegungen registrierten. Dabei fand er zum Beispiel heraus, dass die übergewichtigen Probanden durchschnittlich zwei Stunden mehr als die Normalgewichtigen auf einem Stuhl oder in einem Sessel verbrachten.
Fürs Sitzen ist der Mensch nicht „designed“
Wie schädlich Sitzen ist, hat erst im vergangenen Jahr eine epidemiologische Studie (Beobachtungszeit 14 Jahre) mit über 120.000 US-Amerikanern gezeigt, die im „American Journal of Epidemiology“ erschienen ist: Männer, die täglich sechs Stunden oder mehr sitzend verbrachten, hatten eine um 20 Prozent höhere Sterblichkeit als Männer, die maximal drei Stunden auf ihrem Hosenboden saßen. Bei den Frauen betrug der relative Unterschied sogar 40 Prozent. Andere Studien haben dieses Ergebnis bestätigt, so dass Levine wohl zu Recht sagen kann: „Exzessives Sitzen ist eine tödliche Aktivität“. Das bekannte Problem ist eben: Eine überwiegend sitzende Lebensweise, die in der Evolution ja nicht vorgesehen war, ist die Norm in den wohlhabenden Ländern. Kein Wunder also, dass Levine in einem Kommentar in der Zeitschrift „Diabetes“ seine Mitmenschen dazu auffordert, aufzustehen - im wahrsten Sinne des Wortes. Auch sein Mitstreiter im Kampf gegen die „Bequemlichkeit“ Professor Peter T. Katzmarzyk vom „Pennington Biomedical Research Center“ in Baton Rouge wettert gegen die überwiegend sitzende Lebensweise vieler Menschen in den wohlhabenden Ländern und fordert sogar öffentliche Maßnahmen - und natürlich weitere Forschungsarbeit („Diabetes“), da viele Fragen noch unbeantwortet seien, etwa die, welche öffentlichen Maßnahmen am Erfolg versprechendsten seien. Klar sei aber, dass der Mensch für Bewegung, nicht fürs Sitzen geschaffen sei.
Nun könnte man natürlich meinen, dass eine längere sitzende Tätigkeit ganz einfach durch mehr sportliche Aktivität kompensiert werden könnte. Aber ganz so einfach scheint es nicht zu sein. Der Versuch, die Folgen der Inaktivität durch vermehrte körperliche Aktivität zu kompensieren, sei genau so wenig sinnvoll wie etwa der Versuch, den schädlichen Wirkungen des Rauchens mit regelmäßigem Jogging begegnen zu wollen, meint hierzu Dr. Marc Hamilton in der „New York Times“, der am „Pennington Biomedical Research Center“ seit mehreren Jahren die Physiologie der Inaktivität erforscht. Sitzen bzw. Inaktivität führe sehr rasch zu einer massiven Abnahme des Energieverbrauchs, die Insulinwirkung nehme innerhalb eines Tages ab, der HDL-C-Spiegel sinke. Um rund 40 Prozent fiel bei gesunden Probanden nach 24 Stunden Sitzen die Insulinwirkung auf die Glukoseaufnahme, so nur ein Ergebnis der Forschung von Hamilton. Dieser schädliche Effekt sei so gar dann noch nachweisbar gewesen wenn die Energieaufnahme dem reduzierten Energiebedarf angepasst worden sei, schreiben Hamilton und seine Kollegen in der Zeitschrift „Metabolism“. Dass Inaktivität sehr rasch zu potenziell schädlichen Stoffwechsel-Änderungen führt, bestätigt auch der Ernährungs- und Sportphysiologe Professor John P. Thyfault von der Universität von Missouri, der gerade die vorhandenen wissenschaftlichen Daten dazu ausgewertet hat („Current Opinion in Clinical Nutrition & Metabolic Care“). Sitzen an sich, ob im Auto, vor dem Fernseher oder am Schreibtisch, sei an sich lebensbedrohlich, betont auch Professor Wendell C. Taylor von der Universität von Texas in Houston in einer aktuellen Übersichtsarbeit zum Zusammenhang von Sitzen und kardiovaskulärer Morbidität und Mortalität.
Kräftiges Schwitzen muss nicht sein
Glücklicherweise ist das Gegenteil von Inaktivität nicht unbedingt Sport, sondern Aktivität. Und da reicht es möglicherweise schon, über Jahre hinweg nur ein bisschen rege zu sein, selbst geringe Muskelbewegungen scheinen zu zählen. Untersuchungen von Levine ergaben nämlich, dass übergewichtige Probanden täglich nur 1.500 Bewegungen ausführten und fast zehn Stunden saßen. Schlanke Bauern in Jamaica hingegen kamen nach Angaben von James Vlahos in der „New York Times“ auf täglich immerhin 5.000 Bewegungen und eine Sitzdauer von nur 367 Minuten. Untersuchungen in der Glaubensgemeinschaft der Amischen („Amish people“), bei denen Übergewicht und Adipositas anders als bei ihren Mitbürgern nicht grassieren, ergaben laut Katzmarzyk, dass die Männer täglich über 18.000 Schritte tun, die Frauen etwas mehr als 14.000, was etwa das Doppelte der Schrittleistungen in der Allgemeinbevölkerung ist.
Ab und zu ein Steh-Päuschen genügt
So betrachtet sollte man, wenn man denn schon sitzen muss, das so genannte dynamische Sitzen bevorzugen, also ruhig ein wenig auf dem Stuhl herumzappeln. Das soll übrigens auch Rückenschmerzen vorbeugen, wie etwa der Orthopäde und Sportmediziner Hannes Schoberth 1989 in seinem Standardwerk „Orthopädie des Sitzens“ schrieb. Noch besser ist aber sicher, ab und zu aufzustehen. Denn viele Pausen - sogar wenn sie nur eine Minute dauerten - stärkten das Herz und minderten den Hüftumfang, berichteten vor wenigen Monaten Dr. Genevieve N. Healy von der Universität von Queensland und ihre Kollegen im „European Heart Journal“. Die Forscher hatten 4.757 Erwachsene untersucht, die mit einem Aktivitätsmesser an der Hüfte ausgestattet wurden, der wie ein Schrittzähler funktionierte.
Jene Probanden, die am häufigsten aufstanden, wiesen die günstigsten Blutfett-Werte, den niedrigsten Blutzucker-Spiegel und den geringsten Hüftumfang auf. „Vermutlich könnte man Herz-Kreislauf-Leiden in erheblichem Maß vorbeugen, wenn die ganze Bevölkerung weniger sitzen würde", wird Healy in der „Süddeutschen Zeitung“ zitiert. Besonders überrascht habe die Forscher, „dass sich schon geringfügige Tätigkeiten positiv auswirkten - beim Telefongespräch aufzustehen, zum Kollegen ins Nachbarzimmer zu gehen statt anzurufen oder zum Beispiel die Toilette ein Stockwerk höher zu benutzen“. Es gibt also noch einen guten Grund, ab und zu ein Schwätzchen im Büro zu halten.