Seltene Erkrankungen spielen bislang im Medizinstudium eine geringe Rolle. Dabei leiden heute in der EU rund 20 Millionen meist junge Patienten an einer Orphan Disease. Deren Heilung könnte zur Zukunft der medizinischen Forschung werden.
Eine Krankheit wird als selten bzw. als Orphan Disease bezeichnet, sobald in der EU weniger als 5 von 10.000 Einwohnern betroffen sind. Obgleich nach dieser Definition die Prävalenz eher gering zu sein scheint, sind etwa 20 Millionen Europäer erkrankt. Zu dieser vom klinischen Bild eher heterogenen Gruppe zählen 5.000 bis 8.000 Erkrankungen, die meist genetisch bedingt sind und daher in 80% der Fälle bei Kindern vorkommen. Da exotische Syndrome sowohl in der Lehre als auch im klinischen Alltag eine untergeordnete Rolle spielen, werden die Krankheiten meist – wenn überhaupt – sehr spät erkannt. Klinisch geprüfte und wirksame Medikamente sind immer noch eine Rarität und die regionale Versorgung der Betroffenen lässt vielerorts zu wünschen übrig. Diese Situation führt zu großen medizinischen und auch sozialen Problemen der Patienten und ihrer Angehörigen. Dabei liegen in Bereichen der medizinischen Grundlagenforschung große Chancen, neue effektive Therapieverfahren zu entwickeln.
Zu diesem Thema sprach DocCheck mit Prof. Dr. med. Roland Seifert, dem Leiter des Instituts für Pharmakologie an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH):
Herr Seifert, wie sind Sie zum Thema seltene Erkrankungen gestoßen? Worin besteht Ihr Forschungsschwerpunkt?
Seifert: Während meiner Zeit als Associate Professor an der University of Kansas (Lawrence, KS, USA) arbeitete ich an einem neuropharmakologisch orientierten Institut. Aus der Signaltransduktionsforschung kommend suchte ich nach einem Anknüpfungspunkt für neuropharmakologische Themen. Dabei stieß ich auf das Lesch-Nyhan-Syndrom. Bei dieser Erkrankung, die mit schweren Zwangssymptomen einhergeht, gibt es Veränderungen der transmembranären Signaltransduktion, die neue therapeutische Möglichkeiten eröffnen. Ich arbeite nach wie vor am Lesch-Nyhan-Syndrom. An der MHH habe ich inzwischen einen interdisziplinären Zirkel gegründet, der sich mit Zwangserkrankungen beschäftigt. Desweiteren beschäftige ich mich mit der Entwicklung einer Differenzierungstherapie für die akute myeloische Leukämie, eine seltene und sehr maligne Leukämieform. Möglicherweise lässt sich bei dieser Erkrankung über den Histamin H2-Rezeptor eine Korrektur der gestörten myeloischen Differenzierung erreichen.
Warum sind seltene Erkrankungen bislang in der Bevölkerung und auch teilweise unter Medizinern relativ unbekannt?
Seifert: Im Medizinstudium wurde bisher durchaus zu Recht der Schwerpunkt auf die Behandlung von Volkserkrankungen wie Hypertonie, KHK und Diabetes mellitus gelegt. Diese Erkrankungen können inzwischen recht gut behandelt werden, und es ist zunehmend schwerer geworden, für diese Erkrankungen noch therapeutische Verbesserungen zu erzielen. Durch diese Sättigungs-Symptomatik ist aber nun zunehmend aufgefallen, dass es insgesamt betrachtet noch sehr viele Patienten mit Erkrankungen gibt, denen man bisher nicht gut mit Arzneimitteln helfen konnte.
Was kann man Ihrer Meinung nach tun, um die Lobby der Betroffenen zu stärken?
Seifert: Es ist sehr wichtig, dass sich Mediziner mit Expertise zu bestimmten seltenen Erkrankungen in der Öffentlichkeitsarbeit engagieren und Vorträge halten, z. B. auf dem jährlichen "Rare Disease Day", Ärzte- und Apothekerfortbildungen sowie Jahrestagungen von Selbsthilfegruppen. Ferner ist es wichtig, den medizinischen Nachwuchs bereits im Studium an die Problematik heranzuführen. Schließlich ist es bedeutsam, dass große Universitätskliniken Zentren für seltene Erkrankungen etablieren. Ein solches Zentrum wird demnächst auch an der MHH unter Mitwirkung vieler klinischer und theoretischer Abteilungen gegründet.
Welche aktuellen Fortschritte gibt es bei der Behandlung schwerer und teils letaler Erkrankungen wie zum Beispiel seltener Stoffwechseldefekte?
Seifert: Die Gentherapie, d. h. der Ersatz fehlender Gene, steckt noch in den Kinderschuhen und ist noch nicht routinemäßig einsetzbar. Hingegen kann man bei bestimmten Stoffwechseldefekten inzwischen schon sehr gut und effizient fehlende Enzyme substituieren bzw. nicht gebildete Stoffwechselprodukte zuführen oder Enzyme inhibieren. Allerdings ist insbesondere die Enzymersatztherapie extrem teuer mit Therapiekosten, die bis zu 1 Million Euro pro Jahr und Patient betragen können. Auf dem Gebiet der seltenen Erkrankungen gibt es auch von großen Pharmafirmen zunehmend Forschungsaktivitäten. Dies liegt vor allem daran, dass es für die großen Pharmafirmen schwierig geworden ist, im Bereich der großen Volkserkrankungen innovative und vor allem auch wirklich wirksamere Pharmaka auf den Markt zu bringen.
Herr Prof. Seifert, vielen Dank für das Interview.
Abschließend kann man sagen, dass seltene Erkrankungen immernoch eine eher kleine Rolle im Medizinstudium spielen, obwohl sie ein interessantes Thema darstellen. Da in diesem Bereich jedoch noch viel geforscht wird und werden muss, können wir hoffen, in der Zukunft noch mehr von diesen interessanten Syndromen zu erfahren.