Die ärztliche Tätigkeit soll ja nicht nur ein Handwerk, sondern auch eine Kunst sein. Daraus folgt selbstverständlich, dass ein Computer bestenfalls ein nützlicher Handlanger sein kann. Doch Superrechner Dr. Watson könnte ein richtig wertvoller Gehilfe werden.
Denn Dr. Watson, so heißt ein Supercomputer von IBM, scheint ein ganz besonderer Rechner zu sein - enthält er doch 90 Server mit der Rechenleistung von 2880 Computern. Watson - seinen Namen hat der IBM-Rechner vom IBM-Gründer Thomas J. Watson - ist ein Computersystem, das die natürliche menschliche Sprache (im konkreten Fall Englisch) versteht, Wörter und Zusammenhänge analysiert, Informationen schnell verarbeitet und präzise Antworten auf Fragen in natürlicher Sprache gibt. Was er zu leisten vermag, hat er im Februar dieses Jahres vor allem in dem US-TV-Quiz „Jeopardy“ demonstriert. Wer bei dieser Kultsendung reüssieren will, muss eine profunde Allgemeinbildung haben, sehr schnell reagieren können, zu assoziativem Denken fähig sein, über ein gehöriges Maß an zuverlässigem „Bauchgefühl“ und ein sehr gutes Sprachgefühl verfügen - und selbstverständlich lernfähig sein. Das Quiz ist für einen Computer mehr noch als ein Schachspiel die ultimative Herausforderung, da die im Spiel gegebenen Hinweise Wortspiele, versteckte Bedeutungen, Ironie, Rätsel und ähnliche semantische Feinheiten enthalten, bei der das menschliche Gehirn Computern bislang weit überlegen war. Zur Erinnerung: Bereits 1997 gelang es einem IBM-Schachcomputer (Deep Blue) zwar den damaligen Schachweltmeister Garry Kasparov zu besiegen. Aber selbst Schach auf höchstem Niveau ist für einen Computer eine geringere Herausforderung als eben „Jeopardy“.
Dr. Watson schlägt „Jeopardy“-Champions
Dass Dr. Watson der Herausforderung „Jeopardy“ jedoch gewachsen ist, hat er eindrucksvoll bewiesen, als er Anfang dieses Jahres gegen zwei Champions angetreten ist - und sie beide geschlagen hat. Um in diesem Spiel gegen menschliche Spitzenkandidaten antreten zu können, muss ein Computer übrigens rund 70 Prozent der gestellten Fragen mit einer Genauigkeit von über 80 Prozent in maximal drei Sekunden beantworten können. Dabei arbeitet Dr. Watson mit der „DeepQA“ genannten Technik von IBM. Sie ermöglicht eine neue Form der Analyse, bei der mehrere tausend Aufgaben gleichzeitig in Sekunden verarbeitet werden, um Fragen korrekt in natürlicher Sprache zu beantworten. Nach Angaben des Unternehmens verfügt Watson über rund 200 Millionen Seiten Wissen in menschlicher Sprache (entspricht etwa einer Million gelesener Bücher), darunter auch medizinisches Wissen. Geleitet wird das Watson-Projekt bei IBM von dem Forscher Dr. David Ferrucci.
Watson goes Medicine
In Zusammenarbeit mit IBM und Nuance, dem führenden Anbieter von Software zur Spracherkennung, wollen nun Wissenschaftler der „University of Maryland“ (School of Medicine) in Baltimore und dem „Columbia University Medical Center“ (New York) Dr. Watson auch in der Medizin nutzen. „Das medizinische Wissen verdoppelt sich derzeit innerhalb weniger Jahre“, wird Janet Dillione, Leiterin der Abteilung Gesundheitmärkte bei Nuance, in der Zeitschrift „Technology Review“ („TR“) zitiert. Kein menschliches Gehirn sei in der Lage, all diese Informationen auch nur annähernd parat zu haben. Im Unterschied zu anderen Gesundheits-IT-Systemen sei Watson zudem der erste Computer, der medizinische Informationen in Form von Sprachaufzeichnungen, Notizen und Artikeln sinnvoll verarbeiten könne, sagte Dillione zur „TR“. IBM ist laut den „American Medical News“ inzwischen mit acht Universitäten Partnerschaften eingegangen, um den Superrechner mit medizinischen Informationen zu füttern und um herauszufinden, wie Ärzte mit dem System am besten umgehen könnten.
Kein Arzt-Ersatz, aber ein Gehilfe
Laut dem Radiologen und Nuklearmediziner Professor Eliot L. Siegel, der das Projekt an der „School of Medicine“ leitet, könnte Dr. Watson zu einer Renaissance der „Künstlichen Intelligenz“ in der Medizin führen. Der Superrechner sei sicher kein Ersatz für Ärzte, könne aber als eine Art Gehilfe riesige Datenmengen nicht nur sammeln, sondern organisieren und nach Relevanz aufbereiten sowie mehrere Vorschläge zur Diagnose etwa machen. Diagnose, Therapie und Sicherheit der Behandlung könnten verbessert und zudem Kosten reduziert werden. Dr. Watson könnte also ein wertvoller Assistent werden, der sozusagen neben dem Arzt dem Patienten gegenüber „sitzt“ und Informationen in Echtzeit liefert. In einer konkreten Behandlungs-Situation könnte Dr. Watson nicht allein die aktuellsten Studien-Daten zu irgendeiner medikamentösen Therapie liefern, sondern vor allem individuelle Informationen zu Laborbefunden etwa bis hin zu konkreten Genomdaten. Dr. Watson könnte, so Siegel, eine wirklich „personalisierte Medizin“ ermöglichen. Ebenso sieht dies der Nephrologe Professor Herbert Chase von der „Columbia University“ in New York, der an der Entwicklung des Superrechners mitgearbeitet hat. Nicht anders wie Siegel betrachtet auch seine Mitarbeiterin Dr. Nancy Knight den Superrechner als einen möglicherweise wertvollen Assistenten für Ärzte an, aber keineswegs als Ersatz. „Der Arzt wird immer derjenige sein, der definitiv entscheidet. Wir wollen keine Art von „HAL“ in der Medizin“. HAL war jener fiktive Supercomputer in dem Kubrick-Film „2001: Odyssee im Weltraum“, der schwer neurotisch wurde und die Lebenserhaltungs-Systeme von drei Astronauten ausschaltete, als er durch Beobachtung von Lippenbewegungen erfuhr, dass die Astronauten erwogen, ihn abzuschalten.
Fachgeplänkel noch Vision
Nach Angaben von IBM und Nuance könnte in etwa eineinhalb bis zwei Jahren eine kommerziell nutzbare Version von Watson zur Verfügung stehen. Bis zur vollständigen Integration in der Medizin werden nach Einschätzung von Siegel aber noch mehrere Jahre ins Land gehen. Zunächst wollen die beiden Unternehmen herausfinden, welche medizinischen Daten Watson eigentlich benötigt. Die nächste Aufgabe wird dann sein, die Daten richtig aufzubereiten. Was ausgesprochen schwierig sein wird, da „medizinische Texte häufig zweideutige Akronyme, Abkürzungen, Tabellen und Aufzählungen und grammatikalisch unübliche Formulierungen“ enthalten, erklärt Stephane Meystre, Bioinformatiker an der „University of Utah“ in „TR“. Ebenso schwierig dürfte es für Watson sein, Arzt-Patienten-Gesprächen zu folgen. Nicht Geschwindigkeit sei dabei das Hauptproblem, sondern Genauigkeit. Wer Dr. Watson nutzen will, wird also trainieren müssen, wird Assistenzprofessor Rohit J. Kate zitiert, der als Experte für Sprachverarbeitung an der „University of Wisconsin“ in Milwaukee arbeitet. Bevor Watson zum Fachgeplaudere mit Ärzten und Pflegern fähig sei, würden wohl noch mindestens zehn Jahre vergehen, schätzt Kate. Auch Ferruci betont: „Unsere Arbeiten für „Jeopardy“ weisen in die richtige Richtung, aber angekommen sind wir noch nicht. Intelligente Gespräche mit Maschinen, wie etwa bei „Star Trek“ zu hören, sind also noch Zukunftsmusik.“
Irren ist nicht nur menschlich
Nicht alle Experten sind allerdings von Dr. Watson begeistert. „Das Lösen von kniffeligen Quiz-Fragen bei Jeopardy ist nicht das selbe wie das Lösen medizinischer Probleme“, sagt etwa Professor Edward Shortliffe, Präsident der „American Medical Informatics Assn.“. Skeptisch sind selbstverständlich auch potenzielle Konkurrenten wie etwa Jason Maude, Chef und Mitgründer des Unternehmens „Isabel Healthcare“, das mit „Isabel“ bereits vor rund zehn Jahren ein Expertensystem zur Diagnostik entwickelt hat. „Was bringt Watson, was es nicht schon gibt?“, so eine rhetorische Frage von Maude. Außerdem: Auch Dr. Watson ist nicht unschlagbar. Am ersten März verlor er in „Jeopardy“ gegen den Atomphysiker Rush Holt, der in dem Quiz insgesamt schon fünfmal gewonnen hatte.